Wird die zukünftige Geldentwertung bei der Schmerzensgeldbemessung berücksichtigt?

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Wir haben die Schmerzensgeldbemessung illustrativ in unserem Erklärvideo dargestellt.

Grundsätzlich gilt:

Wenn ein Geschädigter (Opfer eines Verkehrsunfalls oder Behandlungsfehlers) einen Schmerzensgeldbetrag zugesprochen bekommt, dann soll dieser die Lebensbeeinträchtigungen für das gesamte weitere Leben ausgleichen. Früher war das möglich. Mittlerweile ist das ein Problem. Das liegt an der Niedrigzinsphase.

Die Auswirkungen der Niedrigzinsphase auf das Schmerzensgeldkapital

Aufgrund der Niedrigzinsphase schmilzt im Laufe des Lebens der Schmerzenskapital eines Geschädigten dahin. Das haben die meisten Juristen und auch Richter in Deutschland bislang nicht bemerkt oder bemerken wollen oder für relevant gehalten.

Das Landgericht Gießen (LG Gießen, Urteil vom 06. November 2019 – 5 O 376/18) hat jetzt diese Tatsache berücksichtigt und unter Berücksichtigung der Niedrigzinsphase eines der höchsten Schmerzensgeldbeträge in Deutschland ausgeurteilt, nämlich 800.000 €.

In dem Fall ging es um einen 17-jährigen Patienten, der bei einer Routineoperation durch Ärztepfusch so schwer verletzt worden ist, dass er für sein gesamtes restliches Leben im Wachkoma liegen muss. Seine Lebensperspektive und seine Persönlichkeit sind zerstört. Für diese schweren Lebensbeeinträchtigungen erhält ein Geschädigter in Deutschland in der Regel einen Betrag von 500.000 €. Diesen Betrag schätzte das Landgericht zu niedrig ein, weil schon vor zehn Jahren ähnliche Beträge ausgeurteilt worden sind, sodass bei der Bemessung des Schmerzensgeldes von deswegen eine Anpassung (Indexanpassung) aufgrund der Geldentwertung in der Vergangenheit vorgenommen werden muss. Das Gericht hatte in den Urteilsgründen auch geschrieben, dass es sich bei der Schmerzensgeldbemessung auch von der Niedrigzinsphase hat leiten lassen.

Dem ist zuzustimmen. Insbesondere bei jüngeren Geschädigten ist es ein großes Problem, wenn das Schmerzensgeldkapital im Laufe des Lebens aufgebraucht wird. In früheren Zeiten konnte man das Schmerzensgeld anlegen und dann auch noch Zinsgewinne erzielen. Diese waren nicht unbeträchtlich. Es war einem Geschädigten möglich, mit einem Schmerzensgeldkapital von 500.000 € im Monat einen Betrag von 2000 € netto zu erwirtschaften. Sein Schmerzensgeldkapital blieb ihm erhalten. Das ist heutzutage nicht mehr möglich, weil es keine risikolose und gewinnbringende Anlage gibt.

Auf dem Sparbuch ergibt der Betrag in Höhe von 500.000 € bei 0,1 Prozent heutzutage 40 € im Monat. Das ist nicht einmal ein Taschengeld.

Es soll noch schlimmer kommen: Mit Strafzinsen für Kapitalanleger muss ein Betrag ab 100.000 € mit mindestens 0,3 Prozent negativ verzinst werden. Das sind 1200 € pro Jahr, die man für die Lagerung des Geldes bezahlen muss. Hinzu kommt die Geldentwertung. Die Inflationsrate beträgt durchschnittlich 1,5 Prozent. Zusammen mit den Strafzinsen ergibt sich ein Verlust von 1,8 Prozent. Der 17-Jährige hat statistisch noch 61,77 Jahre zu leben, so lässt es sich aus der Sterbetafel ablesen. Wird das Schmerzensgeldkapital für den statistischen Rest des Lebens durch Geldentwertung und Negativzinsen angegriffen, ergibt sich ein Wertverlust von 333.892,30 €. Diesen Wertverlust wollte das Gericht mindestens ausgleichen, in dem es 800.000 € zugesprochen hat. Das Gericht hat den Betrag vermutlich nur geschätzt und nicht genau berechnet.

Passend wäre folgende Berechnung: Dafür, dass schon seit zehn Jahren die Schmerzensgeldbeträge für schwere Hirnschädigungen nicht erhöht worden sind und für die Geldentwertung (Indexanpassung) in der Vergangenheit müsste es ein Grundbetrag von 600.000 € sein, also ein Aufschlag von 100.000 €. Hinzukommt der Wertverlust in Höhe von 333.892,30 € für die Zukunft. Es ergeben sich also: 933.892,30 €. 

Berücksichtigt werden muss auch, dass in früheren Zeiten kein Verlust, sondern ein Gewinn mit dem Schmerzensgeldkapital erwirtschaftet werden konnte. Dazu, wie dies bei der Schmerzensgeldbemessung berücksichtigt werden kann, gibt es bislang keine Rechtsprechung in dem Schmerzensgeldsystem. In der deutschen Rechtsprechung wird der Gesichtspunkt der Niedrigzinsphase nicht gänzlich kompensiert werden. Dazu wäre der Aufschlag zu hoch. Unter Zugrundelegung früherer Sparbuchzinsen von 2,5 Prozent würde sich eine Kapitalansammlung von 1,5 Millionen € ergeben, wenn der Geschädigte das Geld nicht antastet, was bei einer lebenslangen Betrachtungsweise unrealistisch ist. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Geschädigte das Risiko ungünstiger Kapitalerträge nicht allein zu tragen hat. Im Übrigen ist auch vorstellbar, dass sich der Kapitalmarkt im Laufe der nächsten 60 Jahre wieder erholt.

Unseres Erachtens wäre es aber mindestens angemessen, den rechnerisch ermittelten Betrag auf 1,2 Millionen € aufzurunden, um dem Gesichtspunkt der mangelnden Einbringlichkeit von Geldkapital gerecht zu werden.

Foto(s): Dr. Wambach und Walter


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