Freie (?) richterliche Beweiswürdigung im Strafverfahren: Historisch & BGH-Grundsatz: Ein Überblick

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Zentralorgan eines jeden deutschen Strafprozesses ist die Beweiswürdigung:

War der Angeklagte der Täter? Oder war doch wer anderes der Täter?

Hat der Täter mit Vorsatz gehandelt? Oder hat er nur fahrlässig eine Sorgfaltspflicht außer Acht gelassen?

Ist sein Geständnis richtig? Oder ist der Widerruf seines Geständnisses richtig?

Hat der Zeuge den Täter zuverlässig identifiziert? Oder belastet der Zeuge den Angeklagten absichtlich?

Welchen Beweiswert hat der Sachbeweis? Oder reichen die Indizien – selbst bei ihrer Gesamtschau für eine Verurteilung nicht aus?

§ 261 StPO beschreibt in prägnanter Kürze den fundamentalen Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung:

„Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“

Ich erinnere mich, wie mir als junger Student unser ehrenwerter Professor für Strafverfahrensrecht an der Universität in der Vorlesung lapidar vorstellte: Die freie richterliche Beweiswürdigung ist von den Gesetzesvätern für die Richterschaft erlassen worden, damit die Herren Richter nach ihrer Urteilsverkündung noch gut schlafen und vorher in den Spiegel schauen können. Er scherzte, wir lachten, dennoch hatte er auch in Teilen Recht mit seiner Einschätzung.

Historisch betrachtet, geht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung zurück auf das französische Vorbild der „intime conviction“; er fand mit der Einführung der Geschworenen-Gerichte Mitte des vorletzten Jahrhunderts Eingang in den deutschen Strafprozess. Die Geschworenen (Laienrichter, ähnlich der heutigen (grand oder petite Jury)) entscheiden über die Frage: „Schuldig“ oder „unschuldig“? Sie brauchten – weil sie ja Laienrichter waren –, ihre Überzeugung nicht zu begründen. 

In den Materialien zu § 376 StPO (jetzt § 337 StPO) heißt es: 

„Aus demjenigen, was oben über die Notwendigkeit der Beseitigung der Appellation gesagt worden ist, ergibt sich, dass die rein tatsächliche Würdigung des Straffalles, also namentlich die Würdigung der erbrachten Beweise, von der Tätigkeit der des höheren Gerichts ausgeschlossen bleiben muss. Diese Würdigung ist dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen, und das von diesem festgestellte, tatsächliche Ergebnis ist für die höhere Instanz maßgebend.“

Das ist der Grund, weshalb § 267 StPO (regelt den Inhalt der schriftlichen Urteilsgründe) seinem Wortlaut nach keine Beweiswürdigung vorschreibt:

Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die für erachteten Tatsachen angegeben werden, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden.

Dem Gesetzwort reicht es also, dass der Tatrichter im Urteil etwa nur die Zeugen benennt, auf denen seine Überzeugung vom Vorliegen der gesetzlichen Merkmale der Straftat beruht. Eine Würdigung der Beweise (anders im Zivilprozess: §§ 286 I 2, 313 ZPO) nicht vorgeschrieben.

Als in der Weimarer Republik durch die Emminger-Reform die Laien-Gerichte abgeschafft und durch Gerichte mit Berufsrichtern ersetzt wurden, „vergaß“ man (die Richter dürfte es sehr gefreut haben) § 267 StPO entsprechend anzupassen. Von Berufsrichtern kann und muss man eine schriftliche Begründung verlangen.

Schließung der Gesetzeslücke durch die Gerichte:

Der BGH hat die so entstandene Gesetzeslücke ausgefüllt: Er verlangt eine Beweiswürdigung in den Urteilsgründen. Da mit der Revision – auf die Sachrüge – das tatrichterliche Urteil aber nur auf Rechtsfehler geprüft werden kann (§ 337 StPO), ist die revisionsgerichtliche Prüfung eingeschränkt. Der BGH nimmt keine eigene Beweiswürdigung vor; er ist keine zweite Tatsacheninstanz. Nur wenn die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils Rechtsfehler enthält, kann ein sachlich-rechtlicher Angriff gegen die Beweiswürdigung Erfolg haben. Ständige Rechtsprechung ist daher: Das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen ist Sache des Tatrichters. Dessen Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, wenn dass sie möglich sind. Seine in prozessordnungsgemäßer Weise gewonnene Überzeugung ist für das Revisionsgericht bindend. Deshalb hat das Revisionsgericht die Entscheidung des Tatrichters auch grundsätzlich hinzunehmen und sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Urteilsgründe Rechtsfehler enthalten. Diese sind namentlich dann gegeben, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder gegen Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind.

Der Grundsatz des BGH zu § 261 StPO (BGHSt 10, 208, Urteil des 2. Strafsenats vom 09.02.1957)

Tatrichterliche Überzeugung ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die subjektive´, persönliche Gewissheit des Richters. Zwei Grundsatzentscheidungen (eine strafrechtlich und eine zivilrechtliche) haben noch bis heute ihre Gültigkeit:

„Freie Beweiswürdigung bedeutet, dass es für die Beantwortung der Schuldfrage allein drauf ankommt, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt oder nicht; die persönliche Gewissheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend. Der Begriff der Überzeugung schließt die Möglichkeit eines anderen auch gegenteiligen nicht aus, vielmehr gehört es gerade zu ihrem Wesen, dass sie sehr häufig dem objektiv möglichen Zweifel ausgesetzt bleiben. Denn im Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über den Tathergang, dem gegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müssten, verschlossen. Es ist also die für die Schuldfrage entscheidende, ihm allein übertragene Aufgabe des Tatrichters, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und sein Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht.“

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung hat allerdings in der Rechtsprechung des Reichsgerichts wiederholt eine bedenkliche und missverständliche Fassung erhalten (vgl. RG 61, 202,206). Dort ist ausgesprochen, es dürften „nicht zu hohe Anforderungen“ an die Gewinnung einer zur Verurteilung ausreichenden richterlichen Überzeugung gestellt werden, und der Richter müsse sich mit „einem so hohen Grade von Wahrscheinlichkeit begnügen“, wie er bei möglicher erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Erkenntnismittel entstehe.

Eine solche Fassung gibt den Grundsatz des § 261 StPO jedoch unzutreffend wieder.


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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