Umfang vorprozessual-behördlicher Amtsermittlung in Schwerbehindertenverfahren

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Die Entscheidung

Das Sozialgericht Karlsruhe hat in einem denkwürdigen und sehr beachtenswerten Urteil vom 29.07.2019 (Az. S 12 SB 877/19) Art und Umfang vorprozessualer Amtsermittlungen der Versorgungsverwaltung in Schwerbehindertenverfahren beanstandet, in der Sache gemäß § 131 V 1, 5 SGG die streitgegenständlichen Bescheide aufgehoben und an die Verwaltung zurückverwiesen. Begründet wurde dies mit mangelnder Spruchreife, da erheblicher behördlich-sozialmedizinischer Ermittlungsbedarf fortbestünde und ergänzend abzuarbeiten sei.

Insbesondere sah sich das Sozialgericht deshalb nicht zur Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung („Gesamt-GdB“) gemäß § 152 III 1 SGB IX in der Lage, da die vorprozessual im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahmen nicht hinreichend nachvollziehbar waren.

Eine bloße vorprozessuale Einholung von Auskünften der ärztlichen Behandler wurde als unzureichend für eine aktuelle und umfassende sozialmedizinische Ermittlung der maßgeblichen Anknüpfungstatsachen angesehen, zumal sich die ärztlichen Behandler regelmäßig in einem Interessenkonflikt befänden. Der Versorgungsverwaltung wurde aufgegeben, zur weiteren sozialmedizinischen Aufklärung der bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen die Einholung sachverständiger Gutachten durch unvoreingenommene Fachärzte zu veranlassen.

Auf Seiten der Versorgungsverwaltung bestünden gravierende und systematische Ermittlungsdefizite, die beispielsweise dazu geführt haben, dass allein in den Kalenderjahren 2017 und 2018 sozialmedizinische Gutachterkosten in Höhe von mehr als 1.000.000,00 € erspart und auf das Sozialgericht Karlsruhe abgewälzt wurden.

Fazit

Erstmals hat ein Sozialgericht in Baden-Württemberg die bestehende behördliche Praxis der Versorgungsverwaltung in gebotener und nachdrücklicher Weise beanstandet, wonach entgegen der bestehenden (vorprozessualen) behördlichen Amtsermittlungsverpflichtung auf Grundlage bloßer Auskünfte und Atteste der ärztlichen Behandler entschieden und die eigentlich gebotene Einholung sachverständig-medizinischer unabhängiger Gutachten auf die Sozialgerichtsbarkeit nachverlagert wird.

Bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag – für den wir keine Haftung übernehmen – eine Beratung im Einzelfall nicht ersetzen kann.

Andreas Klinger

Rechtsanwalt und

Fachanwalt für Sozialrecht

Fachanwalt für Verwaltungsrecht

Gaßmann & Seidel, Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Stuttgart


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