Die Menschenwürde in der Verfassungsbeschwerde (Teil 1)

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I. Art. 1 Abs. 1 GG

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Nach den grauenhaften Verbrechen des nationalsozialistischen Staates, die die Würde des Menschen auf das Schwerste verletzten, hat der Verfassungsgeber den Schutz der Menschenwürde an den Anfang des Grundgesetzes (GG) gestellt. 

Als Menschenwürde versteht man die Vorstellung, dass alle Menschen – unabhängig von irgendwelchen Merkmalen, wie z. B. Herkunft, Geschlecht oder Alter – denselben Wert haben, da sie sich alle durch ein dem Menschen einzig gegebenes schützenswertes Merkmal auszeichnen, nämlich die Würde. Damit wird deutlich gemacht, dass in der Ordnung des GG zuerst der Mensch kommt, und erst dann der Staat.

1. Grundlagen

Der Artikel 1 des Grundgesetzes garantiert die Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie die Bindung der staatlichen Gewalt an die weiteren Grundrechte (Art. 1 bis Art. 19 GG) der bundesdeutschen Verfassung. 

Ebenso wie Art. 20 GG steht auch Art. 1 GG unter dem Schutz der in Art. 79 GG formulierten Ewigkeitsklausel und darf daher vom verfassungsändernden Gesetzgeber inhaltlich weder abgeschafft noch verändert werden.

Der Art. 1 GG steht nicht ohne Grund an erster Stelle des Grundgesetzes. Vielmehr hat der Schutz der Menschenwürde eine derart herausragende Rolle und Wichtigkeit, dass sie sich als alles beherrschende Aussage über alle Grundrechte legt und mittelbar auf sie einwirkt. Als oberstes Gut der Verfassung und höchster Rangwert in unserem Staat kommt diesem Grundrecht eine Sonderstellung zu, sodass es in keinerlei Weise berührt werden darf.

Die Würde des Menschen stellt den obersten Verfassungsgrundsatz dar, an den alle Staatsgewalt (gesetzgebende Gewalt, ausführende Gewalt und die Rechtsprechung) gebunden ist. Der Staat hat alles zu unterlassen, was die Menschenwürde beeinträchtigen könnte. 

Der Staat und seine Ziele haben keinen Eigenwert, sondern ziehen ihre Berechtigung allein daraus, dass sie den Menschen konkret dienen. Art. 1 Abs. 1 GG dient der Konkretisierung aller nachfolgenden Grundrechte.

Die Menschenwürde ist zum einen der Wert, der allen Menschen gleichermaßen und unabhängig von ihrer Herkunft, Geschlecht, Alter oder Status zugeschrieben wird, und zum andere, der Wert, mit dem sich der Mensch als Art über alle anderen Lebewesen stellt. Die Menschenwürde ist in der christlichen Tradition sowie der antiken Philosophie verankert.

Neben dem Achtungsanspruch existiert neuerdings auch ein Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, der sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG – dem Sozialstaatsprinzip – ableiten lässt. 

Danach muss jedem Hilfebedürftigen ein Mindestmaß an physischer Existenz und die Möglichkeit der Teilhabe an kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten gewährt werden. Die Gewährleistung erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz, sowie eines Mindestmaßes an der Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischem Leben.

2. Schutzbereich

Die Menschenwürde ist, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung immer wieder betont, die wichtigste Wertentscheidung des Grundgesetzes.

Die Menschenwürde kann dem Menschen nicht genommen werden. Jedoch kann der Achtungsanspruch der Menschenwürde verletzt werden, da jeder einzelne Mensch eine Rechtspersönlichkeit hat, die ihm Kraft seines Menschseins zukommt. 

Der Schutz der Menschenwürde bedeutet daher zunächst den Schutz vor der Verletzung dieses Achtungsanspruchs. Auf das Verhalten des Menschen kommt es nicht an, die Würde ist davon unabhängig. Damit ist gesagt, dass der Staat alles zu unterlassen hat, was die Menschenwürde beeinträchtigen könnte.

Die Menschenwürde ist damit ein Abwehrrecht gegen die öffentliche Gewalt selbst, und zwar unabhängig davon, in welcher Ausprägung sie dem Menschen entgegen tritt. Die Menschenwürde ist damit von allen Organen der öffentlichen Gewalt zu achten, von Bund, Ländern und Gemeinden, von Legislative (gesetzgebende Gewalt), Judikative (rechtsprechende Gewalt), Exekutive (ausführende Gewalt), von öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten.

Daneben versteht das Grundgesetz die Menschenwürde aber auch als Leistungsrecht. Das Grundrecht auf Menschenwürde verpflichtet den Gesetzgeber und die vollziehende Gewalt, allgemeinverbindliche Normen zu erlassen, die den Schutz der Menschenwürde bestmöglich gewährleisten. 

Der Staat muss also nicht nur selber Eingriffe in die Würde des Menschen unterlassen, sondern muss – auch durch seine Gerichte – auch darauf hinwirken, dass sowohl die öffentliche Gewalt wie auch private Dritte die Menschenwürde eines jeden Einzelnen achten.

Das Grundrecht steht allen natürlichen Personen zu, selbstverständlich auch allen ausländischen Personen und Kindern. Aber auch Straftätern und Geisteskranken steht der Schutz des Artikel 1 GG zu. Auch durch ein „unwürdiges“ Verhalten geht die Würde nicht verloren.

Nicht geschützt sind juristische Personen und Gruppen als Gesamtheit. Allerdings ist es so, dass die unwürdige Behandlung einer Gruppe deren einzelne Mitglieder verletzen kann.

Der Schutz der Menschenwürde kommt auch dem werdenden Leben im Mutterleib zu. Umstritten ist, ob der Schutz bereits mit der Befruchtung der Eizelle oder erst mit der Nidation des befruchteten Eies in der Gebärmutter einsetzt. Das BVerfG hat den Schutz „jedenfalls“ ab der Nidation bejaht.

Art. 1 Abs. 1 GG – und damit die Menschenwürde – ist seinerseits durch die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt und damit selbst dem Zugriff durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen. Eine Änderung des Grundgesetzes, die den Grundsatz der Menschenwürde aufgeben würde, ist daher unzulässig. Die Menschenwürde endet mit dem Tod des Menschen.

3. Eingriffe

Eingriffe in Grundrechte zum Schutz der Privatsphäre sind generell wegen Art. 1 Abs. 1 GG unzulässig, wenn sie den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen. Gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG hat der Staat zum einen die die Würde des Menschen zu achten. 

Hiermit ist gemeint, dass dem Staat Handlungen verboten sind, die die Menschenwürde verletzen. Das ist dann der Fall, wenn der Mensch zum „bloßen Objekt der Staatsgewalt“ gemacht wird. 

Das kann durch Erniedrigung, Brandmarkung oder Ächtung oder andere Verhaltensweisen geschehen, „die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen“ (BVerfGE 107, 275). Dementsprechend wird die Menschenwürde durch Folter, Sklaverei, Leibeigenschaft oder Stigmatisierung verletzt. Gleiches gilt für jede andere unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.

Auch wird die Menschenwürde verletzt, wenn der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung beobachtet oder abgehört wird. Ein Eingriff in die Menschenwürde des Menschen liegt auch vor, wenn der Mensch zu einem bloßen Objekt eines ihn betreffenden Verfahrens wird.

Weiterhin liegt eine Verletzung vor, wenn die prinzipielle Gleichheit eines Menschen mit anderen Menschen in Zweifel gezogen wird. Das ist dann der Fall, wenn jemand als „Mensch zweiter Klasse“ behandelt wird. „Jeder Mensch muss „als gleichwertiges Glied mit Eigenwert anerkannt werden“ (BVerfGE 45, 187). Erfasst werden insbesondere alle Formen rassischer oder antisemitischer Diskriminierung. 

Ob die Beeinträchtigung der Menschenwürde beabsichtigt ist, ist nicht entscheidend. Die Zustimmung des Betroffenen ändert im Kernbereich des Art. 1 GG nichts am Eingriff. Hierbei kommt es jedoch auf den Einzelfall an.

Abs. 1 S. 2 sieht neben dem „Achten“ den „Schutz“ der Würde des Menschen durch den Staat vor. Er muss daher einerseits „alle Menschen gegen Angriffe auf die Menschenwürde wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. schützen“ (BVerfGE 102/347), insbesondere privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Vorschriften erlassen, die die Beeinträchtigung der Menschenwürde durch Privatpersonen verhindern. Ein Schutz gegen den Willen des Betroffenen ist hierbei jedoch regelmäßig nicht geboten.

4. Rechtfertigung von Eingriffen (Schranken)

Die Menschenwürde unterliegt damit weder einer geschriebenen noch einer ungeschriebenen Einschränkungsmöglichkeit. Ebenso existiert keine Rechtfertigung eines Eingriffs durch ein kollidierendes, d. h. aufeinanderprallendes Verfassungsrecht. 

Der Grund liegt darin, dass Art. 1 GG als höchster und bedeutendster Verfassungswert alle anderen Rechte überwiegt. Eine Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG wird damit niemals gelingen können.

Die Garantie der Menschenwürde unterliegt keinen Beschränkungsmöglichkeiten.

Dies hat jedoch dazu geführt, dass man die Menschenwürde sehr eng definiert. Würde ihr die Rechtsprechung einen allzu weiten Anwendungsbereich zubilligen, würde die Menschenwürde das Verfassungsrecht dominieren und möglicherweise andere Grundrechte verdrängen.

Weiter geht es im nächsten Artikel: Die Menschenwürde in der Verfassungsbeschwerde (Teil 2)

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