Dürfen Überstunden geschätzt werden?
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In einem Arbeitsvertrag werden eigentlich die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien niedergeschrieben. Oft sind die Klauseln jedoch sehr ungenau formuliert oder unvollständig – was sie bedeuten sollen, bleibt dann der eigenen Vorstellung überlassen. Das führt gerade nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses oft zu Streitigkeiten. So schweigen sich viele Verträge z. B. darüber aus, ob und wann Überstunden zu vergüten sind. Wurden unstreitig Überstunden geleistet, aber nicht dokumentiert, stellt sich jedoch die Frage, ob das Gericht den Umfang der Mehrarbeit einfach schätzen darf.
Streit über Umfang der vertraglichen Arbeitszeit
Nach längerer Arbeitslosigkeit wurde ein Arbeitssuchender bei einem Busunternehmen befristet als Busfahrer eingestellt. Laut Arbeitsvertrag sollte der Beschäftigte unter anderem in Vollzeit tätig werden und 1800 Euro brutto zzgl. Spesen erhalten. Ferner sollte er pro Monat zwei Samstage und jeden Sonntag freihaben – etwaige Tätigkeiten am Wochenende sollten mit freien Tagen während der Woche ausgeglichen werden. Auch umfasste die Tätigkeit des Beschäftigten nicht nur die Busfahrten, sondern unter anderem auch eine Fahrzeugkontrolle auf etwaige Mängel vor Reiseantritt, die Dokumentation etwaiger Mängel sowie das Betanken, Waschen und Putzen des Busses nach einer Fahrt.
Nach Ablauf der Befristung verlangte der Busfahrer von seinem früheren Arbeitgeber die Vergütung geleisteter Überstunden. Der jedoch lehnte eine Zahlung ab – schließlich sei als Arbeitszeit die Dauer anzusehen, die er für die Erledigung seiner Arbeit insgesamt gebraucht habe. Eine feste Arbeitszeit stehe schließlich nicht im Arbeitsvertrag. Somit habe der Beschäftigte keine Überstunden geleistet, sondern nur die geschuldeten Tätigkeiten erbracht. Daraufhin klagte der Busfahrer die Überstundenvergütung ein.
Arbeitgeber muss Überstunden vergüten
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied, dass der Busfahrer für 108 geleistete Überstunden eine Vergütung von insgesamt 1103,76 Euro verlangen darf.
Umfang der Arbeitszeit
Überstunden stellen Mehrarbeit dar, die über die geschuldete Arbeitszeit hinaus geleistet wird. Im vorliegenden Fall war jedoch problematisch, dass im Arbeitsvertrag bereits der Umfang der Arbeitszeit nicht deutlich zum Ausdruck kam. Der Busfahrer wurde lediglich „in Vollzeit“ beschäftigt. Nach Ansicht des BAG betrug die geschuldete Arbeitszeit bei einer Fünftagewoche acht Stunden pro Tag: Heutzutage arbeiten Vollzeitangestellte regelmäßig 40 Stunden in der Woche. Auch darf die werktägliche Arbeitszeit bei einer Fünftagewoche acht Stunden grundsätzlich nicht überschreiten, vgl. § 3 I Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Daher durfte der Busfahrer als durchschnittlicher Arbeitnehmer davon ausgehen, dass der Begriff „in Vollzeit“ eine 40-Stunden-Woche umfasst.
Eine regelmäßige Arbeitszeit von 48 Stunden bei einer Sechstagewoche lag nach Ansicht des BAG dagegen nicht vor. Zwar wurde der Busfahrer ab und zu samstags und sonntags tätig – für Einsätze am Wochenende erhielt er aber laut Arbeitsvertrag stets einen Ausgleich, nämlich freie Tage während der Woche. Mit der Klausel hatte sich das Unternehmen also lediglich eine flexiblere Verteilung der Arbeitszeit vorbehalten. Darüber hinaus schreibt § 11 III 1 ArbZG für eine Beschäftigung an einem Sonntag einen Ersatzruhetag vor. Letztendlich fehlte aber auch eine entsprechende Regelung im Arbeitsvertrag. Will ein Arbeitgeber den nach dem ArbZG zulässigen Arbeitszeitrahmen nämlich voll ausschöpfen, muss dies klar und unmissverständlich geregelt werden.
Wann werden Überstunden vergütet?
Überstunden müssen nur vergütet werden, wenn die Arbeitsvertragsparteien dies vereinbart haben oder wenn eine Vergütungspflicht nach § 612 I Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) besteht. Vorliegend hatten die Parteien keinerlei Vereinbarungen in Bezug auf eine Überstundenvergütung getroffen. Allerdings war § 612 I BGB einschlägig: Danach gilt die Vergütung als stillschweigend vereinbart, wenn der Beschäftigte für die Leistung von Überstunden eine Vergütung erwarten durfte. Das wiederum ist der Fall, wenn der Angestellte auf Veranlassung des Chefs – etwa aufgrund einer Weisung – tatsächlich Mehrarbeit geleistet hat. Auch ist das Gehalt des Betroffenen ein Indiz: Ist es eher gering, spricht einiges dafür, dass der Beschäftigte eine Überstundenvergütung erwarten durfte.
Allerdings muss der Angestellte stets nachweisen, dass und in welchem Umfang er Mehrarbeit erbracht hat, was oftmals gar nicht so leicht ist. Sofern jedoch unstreitig feststeht, dass der Beschäftigte auf Veranlassung seines Chefs über die geschuldete Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat, darf das Gericht den Umfang bzw. das Mindestmaß der Überstunden schätzen. Schließlich wäre es unbillig, dem Arbeitnehmer eine Vergütung tatsächlich geleisteter Überstunden zu verweigern, nur weil er sie nicht auf die Minute genau dokumentiert hat.
Vorliegend war das Gericht der Ansicht, dass der Busfahrer seine geschuldeten Tätigkeiten nicht innerhalb von acht Stunden am Tag erledigen konnte. Schließlich musste er nicht nur die Busfahrten durchführen, sondern auch Dokumentationspflichten nachkommen sowie den Bus betanken und putzen. Hierfür brauchte der Busfahrer insgesamt ca. achteinhalb Stunden pro Arbeitstag. Ferner war sein Einkommen eher gering – auch deswegen durfte er eine Vergütung der Mehrarbeit erwarten. Bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses hatte der Busfahrer so insgesamt 108 Überstunden erbracht, die der Arbeitgeber bezahlen musste.
(BAG, Urteil v. 25.03.2015, Az.: 5 AZR 602/13)
(VOI)
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