Der Nachteilsausgleich im Studium

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Der Nachteilsausgleich im Studium 

Erfolgreiches Klageverfahren gegen eine Hochschule nach Ablehnung des Antrag auf Nachteilsausgleich

1. Der Nachteilsausgleich

Der Nachteilsausgleich ist immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen Studierenden und Hochschulen. Mal mangelt es an der Kenntnis der Rechtsprechung, mal werden ärztliche Atteste und deren Aussagekraft schlichtweg ignoriert. Erfahrungsgemäß wird nur einem Bruchteil der Anträge auf Nachteilsausgleich in dem ursprünglich beantragten Umfang entsprochen, obwohl die Betroffenen einen Rechtsanspruch darauf haben.

Zunächst ist Art. 24 Abs. 5 UN-Behindertenrechtskonvention bei der rechtlichen Würdigung zu beachten, obgleich dieser Programmsatz keinen unmittelbaren Rechtsanspruch entfaltet. Darin heißt es:

„Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden.“

Aber auch aus allgemeinen prüfungsrechtlichen Grundsätzen - insbesondere dem Grundsatz der Chancengleichheit – ist abzuleiten, dass unter bestimmten Voraussetzungen ein Nachteilsausgleich zu erfolgen hat. Die jeweiligen Landeshochschulgesetze sowie die Prüfungsordnungen der Hochschulen enthalten ebenfalls Regelungen zum Anspruch auf Nachteilsausgleich.

Die sich aus dem grundrechtlich gewährleisteten Gebot der Chancengleichheit ableitende Maßnahme des Nachteilsausgleichs dient der Herstellung chancengleicher äußerer Bedingungen für die Erfüllung der Leistungsanforderungen durch alle Prüflinge (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.07.2015 - 6 C 35/14 -, juris, Rn. 15 f.; OVG NRW, Beschl. v. 08.06.2020 - 19 E 464/19 -, juris, Rn. 7.). Insoweit soll das aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG folgende Gebot der Chancengleichheit gewährleisten, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen

Um dies zu erreichen, sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Das bedeutet, dass grundsätzliche einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten und die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung gleichartig sein müssen. Solche einheitlichen Prüfungsbedingungen sind jedoch geeignet, die Chancengleichheit derjenigen Prüflinge zu verletzen, deren Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, erheblich beeinträchtigt ist. Diesen Prüflingen steht deshalb ein (auch) unmittelbar aus den Grundrechten abgeleiteter Anspruch auf Änderung der einheitlichen Prüfungsbedingungen im jeweiligen Einzelfall zu. Den Schwierigkeiten des jeweiligen Prüflings, seine vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten bei Geltung der einheitlichen Bedingungen darzustellen, muss durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen Rechnung getragen werden, um chancengleiche äußere Bedingungen für die Erfüllung der Leistungsanforderungen herzustellen (BVerwG, Urt. v. 29.07.2015 - 6 C 35/14 -, juris, Rn. 15 f.; VG Münster, Beschl. v. 28.08.2017 - 1 L 1154/17 -, juris, Rn. 16). 

Ein Prüfling, dessen Unvermögen, innerhalb der festgesetzten Prüfungszeit oder unter regulären Prüfungsbedingungen zumindest ausreichende Ergebnisse zu erzielen, nicht in der geistigen Leistungsfähigkeit, sondern in körperlichen Beeinträchtigungen begründet ist, hat daher grundsätzlich Anspruch auf Ausgleich dieses Nachteils. Denn in diesem Fall liegen Behinderungen der Darstellungsfähigkeit vor, die dem Prüfling lediglich den Nachweis der möglicherweise durchaus vorhandenen Befähigung erschweren und deren Auswirkungen auch später im Berufsleben ausgeglichen werden können. In diesen Fällen gebietet es der Grundsatz der Chancengleichheit, den Nachteil der Darstellungsfähigkeit insoweit auszugleichen, dass die Prüfungsbedingungen des Prüflings denen nichtbehinderter Mitprüflinge entsprechen, er mithin in der Lage ist, seine geistige Leistungsfähigkeit so wie die seiner Mitprüflinge darzulegen. Im Wege des Nachteilsausgleichs soll Kandidaten mit Beeinträchtigungen somit die Teilnahme an der Prüfung und damit einhergehend die Darstellung ihrer Leistungsfähigkeit ermöglicht werden

2. Keine Gewährung einer Überkompensation

Dabei darf der behinderungsbedingte Nachteil durch die Ausgleichsmaßnahmen jedoch nicht überkompensiert werden und nicht zu einer Privilegierung des behinderten Prüflings gegenüber den anderen Kandidaten führen. Dieser darf keinen Vorteil erlangen, der die Chancengleichheit seiner Mitprüflinge verletzen würde (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 04.01.2010 – 7 CE 09.2900 –, juris).

3. Unterschiedliche Verfahrenspraxis an den Hochschulen

In dem von uns vertretenen Fall wurde der mittels ärztlichen Attesten eingereichte Antrag auf Nachteilsausgleich pauschal von der Hochschule abgelehnt, obwohl unsere Mandantschaft eine Autismus-Spektrum-Störung (gem. ICD-10 F85.4) sowie eine Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (gem. ICD-10 F90.9) und Skoliose nachweisen konnte. 

Zur Begründung der Ablehnung trug die Hochschule im Wesentlichen vor, dass auch bei Vorliegen einer Behinderung kein Anspruch auf Nachteilsausgleich bestehe. Die Entscheidung darüber stehe im pflichtgemäßen Ermessen des Prüfungsausschussvorsitzenden. Die Erkrankungen der Klägerin seien keine körperlichen Gebrechen, sondern würden lediglich die kognitiven Fähigkeiten der Klägerin einschränken. Hierfür könne kein Nachteilsausgleich gewährt werden.

Die Ablehnung des Antrags war nach unserer Rechtsauffassung rechtswidrig, so dass Klage eingereicht wurde. Nach umfangreicher Begründung und der Einholung weiterer ärztlicher Atteste erklärte sich die Hochschule im laufenden gerichtlichen Verfahren dazu bereit, ihre Entscheidung zu überdenken. Das Überdenken führte dann dazu, dass unserer Mandantschaft der begehrte Nachteilsausgleich gewährt wurde: 

  • Für Präsenzprüfungen wird ein gesonderter Prüfungsraum an der Hochschule zur Verfügung gestellt
  • Prüfungen, die aus einer Gruppenleistung bestehe, werden für ihre Tochter in Prüfungen umgewandelt, die aus Einzelleistungen bestehen
  • Für schriftliche Präsenzprüfungen wird die Nutzung eines medizinischen Entlastungskissens gewährt
  • Für schriftliche Präsenzprüfungen wird nach einer Bearbeitungszeit von 60 Minuten eine zusätzliche Prüfungszeit von 15 Minuten gewährt zum Zweck der Vornahme von Dehnungsübungen

4. Empfehlung für die Praxis

Betroffene Studierende sollten nicht vorschnell eine Ablehnung ihres Antrags auf Nachteilsausgleich akzeptieren, sondern prüfen bzw. prüfen lassen, ob die Ablehnung auch rechtmäßig erfolgt ist oder nicht doch ein Anspruch auf Nachteilsausgleich besteht, der im Einzelfall über das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer Prüfung entscheiden kann. 

Foto(s): Adope Photoshop - Fechten

Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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