Ist Tätowieren Kunst? Neues Urteil vom Bundessozialgericht in 2024

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Tätowieren und Künstlersozialkasse

Ist eine Tätowiererin eine Künstlerin im Sinne der Künstlersozialversicherung (KSVG)? Diese Frage wurde am 27.06.2024 erneut vom Bundessozialgericht (BSG) geklärt (Link zum Urteil). Die kurze Antwort lautet: Unter Umständen, ja?


Die bisherige Haltung des BSG und der Künstlersozialkasse

Bisher war die Linie des BSG (Urteil von 2007) eher restriktiv. Nur unter besonderen Umständen konnten Tätowierer in der Künstlersozialkasse versichert werden. Grundsätzlich ging man eher von einem handwerklichen als von einem künstlerischen Schwerpunkt aus. Nur, wenn beispielsweise eine besondere Anerkennung in fachkundigen (Kunst-)Kreisen vorlag, könne die Tätigkeit als künstlerisch angesehen werden.

Konkret ist hierfür entscheidend, ob er bzw. sie Mitglied in einem Berufsverband für bildende Künstler ist, an Kunstausstellungen teilnimmt und/oder seine bzw. ihre Werke Gegenstand von Anerkannter Kulturberichterstattung (z.B. Feuilleton) sind.

Kann eine solche Anerkennung nicht nachgewiesen werden, wird der Schwerpunkt der Tätigkeit eines Tätowierers im Bereich Handwerk verortet.

Die KSK hat die Aufnahme von Tätowierern bisher faktisch nur dann zugelassen, wenn eine Mitgliedschaft in einem Berufsverband für Bildende Künste (BBK) vorlag. Uns sind aus der gesamten Bundesrepublik nur sehr wenige Fälle bekannt, in denen es tatsächlich zur Aufnahme einer Tätowiererin bzw. eines Tätowierers gekommen ist.


Wandel in der "Verkehrsanschauung"?

Unter der sogenannten Verkehrsanschauung versteht man die "Durchschnittsansicht verständiger Menschen" in der Bevölkerung.

Unserer Ansicht nach, stellt die mittlerweile in Deutschland vorherrschende Art zu tätowieren, eine Form des künstlerischen Ausdrucks im Sinne des materiellen Kunstbegriffs des Bundesverfassungsgerichts dar (Mephisto-Entscheidung, BVerfGE 30, 173 (188 f.).

Im Fall unserer Mandantin (einer Tätowiererin aus Hamburg) konnten die Vorinstanzen (SG, LSG Hamburg) davon überzeugt werden, dass ihre Art zu tätowieren in erster Linie als Kunst anzusehen ist. Sie solle demnach in die KSK aufgenommen werden, so die Gerichte. Die KSK hatte diese Entscheidungen dann mit der Revision zum BSG angegriffen.

Unserer Ansicht nach hat sich insgesamt auch in der Breite eine Art zu tätowieren durchgesetzt, die man vor allem als Form künstlerischen Ausdrucks ansehen kann. Insofern dürfte sich die Verkehrsanschauung, und damit das Bild eines Tätowierers in der Gesellschaft, in den letzten 15 Jahren signifikant geändert haben. Man kann insofern davon ausgehen dass die Verkehrsanschauung das Tätowieren als Kunstform einordnet. Jedenfalls nicht weniger als z.B. Webdesign.

Für die Tätigkeit eines Tätowierers sollte also grundsätzlich eine Versicherungspflicht nach § 2 Künstlersozialversicherungsgesetz bestehen und keine „Extra-Hürde“ mehr zu bewältigen sein.


Das Urteil des BSG vom 27.06.2024

Das BSG hat die Urteile der Vorinstanzen grundsätzlich bestätigt. Leider ist der 3. Senat in seinem Urteil aber beim Punkt einer gewandelten Verkehrsanschauung, im Gegensatz zu den Vorinstanzen, zurückgerudert.

Im Prozessverlauf wurde von unserer Seite wie oben schon beschrieben u.A. vorgetragen, dass das Tätowieren mittlerweile in der „Durchschnittsansicht verständiger Menschen“ als Kunst angesehen wird. Es gibt demnach mittlerweile eine Verkehrsanschauung, die Tätowieren als Kunst begreift.

SG und LSG Hamburg waren dieser Ansicht gefolgt. Das BSG räumt zwar eine gestiegene Akzeptanz von Tätowierungen in der Gesellschaft und eine Zunahme der Präsenz in den Medien ein, verneint aber einen grundsätzlichen Wandel der Verkehrsanschauung.

Positiv zu bewerten sind allerdings diese Punkte:

  • Zuerst die Feststellung des BSG: „Tätowierern, bei denen der Entwurf des individuellen Motivs und dessen Umsetzung in einem Tattoo als Unikat zu einem Gesamtkunstwerk verwoben sind, ist der Zugang zur Künstlersozialversicherung eröffnet.“
  • Außerdem die Klarstellung im Urteil: „Hinzu kommen muss, dass sich bei ihnen (Anm.: Tätowierer) zwischen Kunst und Handwerk nicht trennen lässt, weil das aus zeichnerisch-entwerfender kreativer Tätigkeit entstandene individuelle Motiv und dessen Umsetzung sowie Fertigstellung auf und in der Haut mit eigenschöpferischem Gestaltungsspielraum bzw. kreativen Freiheiten in einem künstlerischen Vorgang verwoben sind und das Tätowieren nicht die bloße handwerklich-technische Umsetzung einer kreativen Idee ist. Motiv und Tätowierung bilden vielmehr ein Gesamtkunstwerk und bleiben ein Unikat, das nicht weiter produziert und vermarktet wird.
  • Der o.g. Punkt wird vom Gericht auch nochmals hervorgehoben: „Diese Tattoos bilden ein einheitliches Gesamtkunstwerk, bei dem sich zwischen Motiv (Design) und Umsetzung (Ausführung) nicht trennen lässt, sie bleiben Unikate und werden nicht seriell verwendet, weder von der Klägerin noch von Dritten. Die Klägerin ist danach nicht Tätowiererin, sondern "einheitliche" Künstlerin, die (auch) tätowiert.“


Neue Kriterien für eine Aufnahme als Tätowierer/in in die KSK können nun also sein:

  • Ein künstlerischer Werdegang (z.B. Kunststudium, Designstudium).
  • Der Entwurf des Motivs und die Umsetzung bilden ein Gesamtkunstwerk.
  • Die Tätowiererin bzw. der Tätowierer ist ein einheitlicher Künstler, die bzw. der auch tätowiert.


Weiterhin können die bisherigen Kriterien helfen:

  • Es finden kuratierte Ausstellungen mit den Motiven des Tattoo-Artist statt
  • Sie bzw. er wird in „Kunstkreisen anerkannt“ (z.B. Ausstellungen, Veröffentlichungen etc.)
  • Sie bzw. er ist als Tätowierer/in Mitglied in einem BBK


Fazit

Leider ist nicht zu erwarten, dass die KSK aufgrund des Urteils des BSG aus 2024 ihre Verwaltungspraxis grundsätzlich ändern wird.

Die KSK lehnt noch immer Tätowierer/innen ab, mit der Begründung, dass die Tätigkeit angeblich einen handwerklichen Schwerpunkt habe. Allerdings zeigen die Urteile der verschiedenen Instanzen (SG und LSG Hamburg) in diesem Fall, das Urteil des BSG sowie eine vergleichbare Rechtsprechung vom LSG Saarland, dass die Aufnahme grundsätzlich möglich ist, wenn ein künstlerischer Ansatz den Kern der Tätigkeit bildet.

Eine scharfe Trennung zwischen Kunst und Handwerk ist insofern auch weder möglich noch für die Zuordnung einer Tätigkeit sinnvoll. 

Denn: Wenn ein Maler eine Auftragsarbeit anfertigt, wird er letztlich auch für die tatsächliche Umsetzung und nicht für die reine Idee bezahlt. Genauso verhält es sich mit Komponisten bzw. Produzenten von Filmmusik. Hier steht vor allem die Umsetzung („Scoring“) im Vordergrund und nicht die reine musikalische Idee als Kern einer Komposition.

Zum Volltext des BSG Urteils vom 27.06.2024.

Zur Homepage www.ksk-rechtshilfe.de

Foto(s): Kevin Bidwell

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