Muss der merkantile Minderwert auf Basis des Netto- oder des Bruttoverkaufspreises ermittelt werden?
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Der merkantile Minderwert ist ein wichtiger Begriff im Schadensrecht, insbesondere im Bereich der Fahrzeugschäden nach Verkehrsunfällen. Er bezeichnet den Wertverlust eines Fahrzeugs, der trotz vollständiger und fachgerechter Reparatur nach einem Unfall verbleibt. Beispiel: Auf der Autobahn A9 knallt der polnische Lkw in den fast fabrikneuen Audi A6 des Münchner Apothekers Holger Müller. Das Auto wird vollständig repariert, hat aber trotzdem einen Wertverlust. Dieser Wertverlust entsteht, weil viele Käufer auf dem Gebrauchtwagenmarkt eine Abneigung gegen den Kauf eines unfallbeschädigten Fahrzeugs haben, selbst wenn es professionell instand gesetzt wurde. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nun für Klarheit gesorgt, wie dieser merkantile Minderwert korrekt zu berechnen, ist – nämlich auf Basis des Nettoverkaufspreises und nicht des Bruttoverkaufspreises.
Rechtliche Grundlagen zum merkantilen Minderwert
Der BGH stützt seine Entscheidung (Urteil vom 16.7.2024 (VI ZR 188/22) (LG Memmingen)) auf §§ 249 und 251 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Gemäß § 249 Abs. 1 BGB hat der Schädiger den Zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre. Ist dies nicht oder nicht vollständig möglich, so greift § 251 Abs. 1 BGB, der einen Anspruch auf Geldersatz regelt. Der merkantile Minderwert stellt hierbei einen solchen Ersatz dar, da durch den Wertverlust trotz Reparatur ein bleibender wirtschaftlicher Schaden entstanden ist.
Der BGH führt in seiner Entscheidung aus, dass der merkantile Minderwert grundsätzlich auf Basis eines hypothetischen Verkaufs des Fahrzeugs berechnet wird. Es wird also geschätzt, um wie viel geringer der erzielbare Verkaufspreis nach der Reparatur im Vergleich zu einem unfallfreien Fahrzeug ausfällt. Dabei ist auf den Nettoverkaufspreis abzustellen, unabhängig davon, ob der Geschädigte vorsteuerabzugsberechtigt ist oder nicht.
Warum der Nettoverkaufspreis entscheidend ist
Die Entscheidung des BGH beruht auf der Überlegung, dass der merkantile Minderwert nicht der Umsatzsteuer unterliegt. Die Umsatzsteuer entsteht nur bei einem tatsächlichen Leistungsaustausch, etwa beim Verkauf des Fahrzeugs, aber nicht beim Ersatz eines Schadens. Selbst wenn der Geschädigte Unternehmer ist und daher zum Vorsteuerabzug berechtigt wäre, ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Umsatzsteuer im Rahmen der Berechnung des merkantilen Minderwerts keine Rolle spielen darf.
Dies verdeutlicht der BGH an einem einfachen Rechenbeispiel:
- Bruttoverkaufspreis ohne Unfall: 15.000 Euro
- Nettoverkaufspreis ohne Unfall: 12.605,04 Euro
- Bruttoverkaufspreis nach Unfall: 13.000 Euro
- Nettoverkaufspreis nach Unfall: 10.924,37 Euro
Die Differenz zwischen den beiden Nettoverkaufspreisen beträgt hier 1.680,67 Euro, was den tatsächlichen merkantilen Minderwert darstellt. Hätte man stattdessen den Bruttowert angesetzt, so wäre der Minderwert mit 2.000 Euro um 319,33 Euro höher ausgefallen. Dies hätte zu einer Überkompensation des Geschädigten geführt, da der eigentliche wirtschaftliche Schaden nicht so hoch ist. Diese Überkompensation ist im Schadensersatzrecht nicht zulässig, da der Geschädigte nur den tatsächlichen Schaden ersetzt bekommen soll, nicht mehr.
Brutto- und Nettowerte im Schadensrecht
In der Praxis war es lange Zeit umstritten, ob der merkantile Minderwert vom Netto- oder vom Bruttoverkaufspreis zu berechnen ist. Besonders bei vorsteuerabzugsberechtigten Geschädigten, also Unternehmen, stellten sich Haftpflichtversicherer häufig auf den Standpunkt, dass der Minderwert um den Umsatzsteueranteil zu kürzen sei, da dieser ohnehin an das Finanzamt abgeführt werden müsse. Andererseits argumentierten Geschädigte und Sachverständige oft damit, dass die Umsatzsteuer in den meisten Gutachten gar keine Rolle spiele, weil der merkantile Minderwert steuerneutral sei.
Der BGH hat diese Diskussion nun beendet und klargestellt, dass es für die Ermittlung des merkantilen Minderwerts allein auf den Nettoverkaufspreis ankommt. Das heißt, die Wertdifferenz zwischen dem Verkaufspreis vor und nach dem Unfall wird stets ohne Berücksichtigung der Umsatzsteuer berechnet. Dies gilt sowohl für vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer als auch für Privatpersonen. Der BGH betont dabei, dass die Umsatzsteuer in beiden Fällen entweder nur einen durchlaufenden Posten darstellt oder gar nicht in Rechnung gestellt wird.
Beispiel: Unfall mit vorsteuerabzugsberechtigtem Geschädigten
Ein anschauliches Beispiel verdeutlicht die Problematik: Ein Unternehmen besitzt einen Firmenwagen, der bei einem Verkehrsunfall erheblich beschädigt wird. Der Firmenwagen hatte vor dem Unfall einen geschätzten Bruttoverkaufspreis von 20.000 Euro und einen Nettoverkaufspreis von 16.806,72 Euro. Nach der Reparatur beträgt der Bruttoverkaufspreis noch 17.000 Euro, der Nettoverkaufspreis liegt bei 14.285,71 Euro. Die Differenz beträgt 2.521,01 Euro netto, was den merkantilen Minderwert darstellt.
Würde man die Berechnung auf den Bruttowerten basieren, ergäbe sich ein merkantiler Minderwert von 3.000 €, was zu einer Überkompensation von 478,99 Euro führen würde. Diese Differenz ergibt sich aus dem Umsatzsteueranteil, der für das Unternehmen als durchlaufender Posten gilt und somit nicht zum eigentlichen Schaden zählt.
Der BGH hat in seinem Urteil (VI ZR 188/22) unmissverständlich klargestellt, dass der merkantile Minderwert immer netto zu ermitteln ist. Die Umsatzsteuer darf nicht in die Berechnung einfließen, da sie keinen Teil des eigentlichen Vermögensverlustes darstellt. Andernfalls würde der Geschädigte einen höheren Betrag erhalten, als ihm tatsächlich zusteht.
Was bedeutet das für die Praxis?
Für Geschädigte, Versicherer und Sachverständige hat das Urteil des BGH erhebliche Konsequenzen. Sachverständige müssen zukünftig darauf achten, dass sie den merkantilen Minderwert auf Basis des Nettoverkaufspreises ermitteln und dies auch klar in ihren Gutachten festhalten. Für Versicherer bedeutet das Urteil, dass sie Abzüge für Umsatzsteueranteile vornehmen dürfen, wenn der merkantile Minderwert auf Bruttopreisen basiert wurde.
Für Geschädigte ist es ebenfalls wichtig zu wissen, dass sie unabhängig von ihrem Vorsteuerstatus stets nur den Nettominderwert ersetzt bekommen. Dies gilt sowohl für Privatpersonen als auch für Unternehmer. Der Vorsteuerstatus spielt für die Berechnung des Schadens keine Rolle, da die Umsatzsteuer nicht als Schaden angesehen wird, sondern als Steuerlast, die entweder abgeführt oder gar nicht in Rechnung gestellt wird.
Fazit und Ausblick
Das Urteil des Bundesgerichtshofs sorgt für Klarheit in einer langen umstrittenen Frage: Der merkantile Minderwert ist stets auf Basis des Nettoverkaufspreises zu ermitteln, unabhängig vom Vorsteuerstatus des Geschädigten. Dies verhindert eine Überkompensation und stellt sicher, dass der Geschädigte nur den tatsächlichen Schaden ersetzt bekommt, der durch den Unfall entstanden ist. Damit wird eine Gleichbehandlung zwischen vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmern und Privatpersonen geschaffen.
Die Entscheidung des BGH ist nicht nur für die Unfallregulierung von Bedeutung, sondern hat auch Auswirkungen auf die Arbeit von Sachverständigen und Versicherungen. Es bleibt zu hoffen, dass durch dieses Urteil zukünftige Streitigkeiten über die Berechnung des merkantilen Minderwerts vermieden werden.
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