Wahrscheinlichkeitsannahmen durch Sachverständige im Bauprozess

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Einleitung / Problemstellung:

Das Oberlandesgericht Nürnberg hatte in seinem Urteil vom 21. März 2024 (Az. 13 U 695/23) über die Haftung eines Bauträgers für Mängel an der Kellerkonstruktion eines Wohnhauses zu entscheiden. Die Kläger forderten die Beseitigung der Feuchtigkeitsschäden im Keller und Treppenhaus ihres Hauses, welches sie von der Beklagten erworben hatten. Die Hauptfragen des Urteils betrafen die richterliche Beweiswürdigung bei Wahrscheinlichkeitsannahmen der Sachverständigen und die Grenzen der Begutachtungstiefe bei Leistungsklagen auf Mangelbeseitigung.

Hintergrundinformationen:

Die Kläger erwarben 2015 vom Bauträger, der Beklagten, ein Reihenendhaus, welches Teil einer Wohnanlage mit sechs Doppelhaushälften und sechs Reihenhäusern ist. Die Häuser wurden mit einer Kellerabdichtungskonstruktion („Weiße Wanne“) gebaut. Bereits 2012, beim Übergang der Immobilien an die Bundesrepublik Deutschland, wurden feuchte Kellersubstanzen festgestellt. Trotz mehrerer Sanierungsversuche trat erneut Feuchtigkeit in verschiedenen Häusern, einschließlich dem der Kläger, auf. Die Kläger beauftragten einen Privatgutachter, der die Feuchtigkeit bestätigte, was zu der Klage auf Mangelbeseitigung führte.

Rechtliche Erwägungen:

Das Urteil des OLG Nürnberg ist in Bezug auf die richterliche Beweiswürdigung bei Wahrscheinlichkeitsannahmen von Sachverständigen sowie auf die Leitlinien zur Begutachtungstiefe bei Mangelbeseitigungsklagen von großer Bedeutung. Verschiedene Aspekte der rechtlichen Erwägungen des Gerichts sind hervorzuheben:

Beweiswürdigung bei Wahrscheinlichkeitsannahmen:

Der ZPO § 286 regelt die freie Beweiswürdigung des Gerichts. Das Gericht ist berechtigt, sich auch dann von einer Tatsache zu überzeugen, wenn der Gutachter lediglich die Wahrscheinlichkeit und nicht die absolute Gewissheit über alternative Ursachen des Schadens nennen kann.

Denn: „Entscheidend ist nicht der Grad der Überzeugung des Sachverständigen, sondern die persönliche Überzeugung des Tatrichters, und diese setzt nicht den Ausschluss letzter Zweifel, sondern lediglich einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit voraus.“

Freie Beweiswürdigung: Nach § 286 ZPO darf das Gericht die Überzeugung über die Ursache eines Mangels gewinnen, auch wenn theoretische, aber nicht plausible Alternativen bestehen. Entscheidend ist hierbei die Gesamtschau aller vorliegenden Fakten und Gutachten.

Sachverständigengutachten: Gutachten unterliegen der freien richterlichen Beweiswürdigung. Das Gericht kann anhand des Gesamteindrucks der Ausführungen des Sachverständigen sowie der übrigen Beweise entscheiden, ob der Mangel vorliegt oder nicht.

Vermutete alternative Ursachen:

Im vorliegenden Fall berücksichtigte das Gericht die Aussagen des Sachverständigen, dass alternative Ursachen für die Feuchtigkeitseintritte theoretisch denkbar, aber nicht plausibel seien.

Klarstellung durch den Sachverständigen: Der Sachverständige gab an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Ursache der Feuchtigkeit in der Betonkonstruktion des Kellers liege, äußerst groß sei. Einige alternative Ursachen seien theoretisch möglich, jedoch nicht plausibel. Zum Beispiel wäre ein Leitungsleck dauerhafter und nicht nur gelegentlich für die Feuchtigkeit verantwortlich. Außerdem fehlen äußere Anzeichen wie Feuchtigkeit an Objekten, die auf dem Estrich stehen.

Ausschluss alternativer Ursachen: Durch die Gesamtsicht der Umstände und die Einschätzungen des Gutachters stellte das Gericht schließlich eine sachliche Verbindung der Feuchtigkeitseintritte mit der baulichen Ursache fest und schloss andere Ursachen aus.

Tiefe der Begutachtungen bei Leistungsklagen:

Bei auf Mangelbeseitigung gerichteten Klagen ist die präzise Feststellung des Mangels wesentlich. Dies umfasst jedoch nicht immer die genaue Bestimmung jeder Eintrittsstelle des Mangels.

Präzision der Mangelbestimmung: Gemäß § 635 BGB (in der Fassung bis 31.12.2017) genügt es, den Mangel an sich – etwa eine Kellerundichtigkeit – zu benennen. Exakte Lokalisierung einzelner Undichtigkeiten ist für die Klageentscheidung nicht zwingend notwendig, denn dies betrifft di Mangelursache, nicht das Vorhandensein es Mangels an sich.

Verantwortung des Bauträgers: Der Bauträger ist verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung des Mangels zu ergreifen. Die Auswahl der Art der Mangelbeseitigung, ob durch gezielte punktuelle Maßnahmen oder umfassendere Arbeiten, obliegt primär dem Bauträger.

Folgen für die Praxis:

Dieses Urteil hat weitreichende Folgen für ähnliche Fälle im Baurecht und die Beweisführung in Mangelbeseitigungsprozessen. Die wichtigsten praktischen Auswirkungen sind:

  • Bauträger haftet: Bauträger können nicht lediglich auf theoretische Alternativursachen verweisen, um eine Haftung zu umgehen, wenn ein gutachterlich belegter mangelhafter Zustand der Baukonstruktion besteht, auch wenn dieser nicht an jeder Stelle exakt lokalisiert werden kann.
  • Recht auf umfassende Mangelbeseitigung: Käufer haben ein Recht auf vollständige Beseitigung der Mängel, ohne genauere technische Nachweise jeder Schadensursache vorlegen zu müssen. Dieses Urteil stellt klar, dass bereits plausible, weite Gutachterannahmen ausreichen, um Ansprüche durchzusetzen.

Fazit:

Das Urteil des OLG Nürnberg beleuchtet wesentliche prozessuale und gutachterliche Aspekte bei Mangelbeseitigungsklagen. Durch die Anwendung der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO konnte das Gericht die hohe Wahrscheinlichkeit und Plausibilität der baulichen Mängel, wie vom Sachverständigen ausgeführt, akzeptieren und gleichzeitig theoretische Alternativursachen als nicht plausibel ausschließen. Die Entscheidung verdeutlicht, dass es bei Leistungsklagen auf Mangelbeseitigung genügt, den Mangel an sich hinreichend zu benennen, ohne jede Eintrittsstelle exakt lokalisieren zu müssen. Dies stärkt die Rechtsposition von Bauherren, indem sie eine umfassende Mangelbeseitigung verlangen können, selbst wenn nicht alle Ursachen präzise festgelegt werden können



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