Was bedeutet vorläufige Vollstreckbarkeit?

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In Gerichtsurteilen findet sich meistens neben dem eigentlichen Urteil, also der Entscheidung, auch eine Aussage zur sogenannten vorläufigen Vollstreckbarkeit.

Was bedeutet dies? Welche Konsequenzen hat die vorläufige Vollstreckbarkeit für die Prozessbeteiligten?

Vorläufige Vollstreckbarkeit bedeutet, dass aus einem Urteil bereits die Zwangsvollstreckung betrieben werden kann, obwohl das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. 

Rechtskraft bedeutet, dass ein Urteil mit einem ordentlichen Rechtsbehelf, z.B. der Berufung, nicht mehr angegriffen werden kann.  Dann steht das Urteil endgültig fest und kann grundsätzlich nicht mehr beseitigt werden.

Solange ein Urteil nicht rechtskräftig ist, ist also entsprechend noch keine endgültige Entscheidung über den Rechtsstreit getroffen.  

Im Rahmen der vorläufigen Vollstreckbarkeit kann der Gläubiger bereits aus einem Urteil vollstrecken, obwohl noch keine Rechtskraft, also eine endgültige Entscheidung, eingetreten ist.

Zur Verdeutlichung ein Beispiel:

Der Schuldner wird in einem erstinstanzlichen Urteil zur Zahlung von 1.000,00 EUR verurteilt.

Hiergegen geht der Schuldner in Berufung.

Wäre das Urteil nicht vorläufig vollstreckbar, könnte der Gläubiger erst nach der endgültigen Entscheidung vollstrecken, also z.B. erst, wenn in der zweiten Instanz rechtskräftig festgestellt wurde, dass der Schuldner tatsächlich die 1.000,00 EUR zahlen muss, es also bei dem Urteil der ersten Instanz bleibt.

Das Problem: Während des Berufungsverfahrens trägt der Gläubiger das sogenannte Insolvenzrisiko. Das bedeute, dass er mit dem Risiko leben muss, dass der Schuldner am Ende des langwierigen Prozesses über zwei Instanzen kein Geld mehr hat, eine Vollstreckung also ins Leere gehen würde. Dies ist insbesondere dann bitter, wenn der Schuldner das Geld nach dem erstinstanzlichen Urteil noch gehabt hätte, inzwischen aber zahlungsunfähig geworden ist.

Hier hilft die vorläufige Vollstreckbarkeit. Diese führt dazu, dass der Gläubiger direkt nach dem erstinstanzlichen Urteil gegen den Schuldner vollstrecken kann und nicht die endgültige rechtskräftige Entscheidung abwarten muss.

Das Gesetz unterscheidet hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit drei verschiedene  Arten von Urteilen.

Zunächst gibt es Urteile, die nicht für vorläufig vollstreckbar erklärt werden müssen, da sie mit Ihrer Verkündung, also sofort, rechtskräftig sind. Dies sind Urteile, gegen die es kein Rechtsmittel mehr gibt. Z.B. Revisionsurteile des Bundesgerichthofes.

Daneben gibt es Urteil, die ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt werden, sowie Urteile, die gegen Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar sind.

Was hat es mit dieser Sicherheitsleitung auf sich?

In dem obigen Beispiel habe ich ausgeführt, dass der Gläubiger das sogenannte Insolvenzrisiko trägt, dass der Schuldner, in dem Moment, wo er vollstrecken darf, zahlungsunfähig ist. Hier hilft ihm, wie geschildert, die vorläufige Vollstreckbarkeit. Umgekehrt führt die vorläufige Vollstreckbarkeit aber auch dazu, dass gegebenenfalls zu Unrecht gegen den Schuldner vollstreckt wird, weil sich in der zweiten Instanz herausgestellt hat, dass dem Gläubiger der Anspruch doch nicht zusteht. Dann bekommt der Schuldner den zu Unrecht vollstreckten Betrag von dem Gläubiger zurück. Ist nun aber der Gläubiger in der Zwischenzeit zahlungsunfähig geworden, geht dieser Erstattungsanspruch des Schuldners gegebenenfalls in die Leere.

Hier hilft die Sicherheitsleistung. Diese besagt, dass der Gläubiger nur dann vorläufig vollstrecken darf, wenn er zuvor Sicherheit für den zu vollstreckenden Betrag geleistet hat, wobei die Höhe der Sicherheit vom Gericht bestimmt wird. Ist der Gläubiger am Ende zahlungsunfähig und kann den im Wege der vorläufigen Vollstreckung von dem Schuldner erlangten Betrag nicht zurückzahlen, kann sich der Schuldner aus der vom Gläubiger bestellten Sicherheit bedienen.

Die Sicherheit wird üblicher Weise durch eine Bürgschaft oder durch die Hinterlegung erbracht.

Welche Urteile ohne Sicherheitsleistung vollstreckt werden, ergibt sich aus § 708 der Zivilprozessordnung (ZPO)

Als Beispiele seien hier genannt Urteiel aufgrund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts, Versäumnisurteile, Urteile in einem Räumungsprozess zwischen Vermieter und Mieter und Urteile in Vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache nicht mehr als 1250,00 EUR beträgt, wenn dem Kläger also nicht mehr als dieser Betrag zugesprochen wird.

In diesen Fällen und den weiteren in § 708 ZPO genannten Fällen wird das Urteil ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt. Der Gläubiger kann also sofort mit der Vollstreckung loslegen.

Da der Schuldner dieser Vollstreckung ohne Sicherheitsleistung dann quasi ohne Schutz ausgesetzt ist, gibt das Gesetz ihm die Möglichkeit, die Zwangsvollstreckung gegen Zahlung einer Sicherheit Abzuwenden. Diese Abwendungsbefugnis ist geregelt in § 711 ZPO. In bestimmten Fällen, nämlich bei den in § 708 Nr. 4 bis 11 genannten Urteilen, kann der Schuldner die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung abwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.

Stellt der Schuldner also eine Sicherheit, kann er die Vollstreckung verhindern. Allerdings nur, wenn nicht auch der Gläubiger Sicherheit leistet, Tut der Gläubiger dies, kann er auf jeden Fall vollstrecken. Der Schuldner ist dann aber auch geschützt, da er sich ja im Zweifelsfalle, wie oben beschrieben aus der Sicherheit bedienen kann, wenn der Gläubiger den vorläufig vollstreckten Betrag zurückzahlen muss, aber inzwischen zahlungsunfähig geworden ist.

Diese Abwendungsbefugnis greift aber nur in den Urteilen, die in den Nummern 4 bis 11 des § 708 ZPO genannt sind. Für die übrigen in § 708 ZPO genannten Urteile ist eine solche Abwendungsbefugnis nicht vorgesehen. Praktisch wichtigster Fall dürfte hier das Versäumnisurteil sein. Dieses ist immer und ohne Sicherheitsleitung vorläufig vollstreckbar.

In § 709 ZPO ist geregelt, welche Urteile gegen Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt werden. Dort heißt es, dass andere Urteile gegen eine der Höhe nach zu bestimmende Sicherheit für vorläufig vollstreckbar zu erklären sind. Andere Urteile meint dabei alle Urteile, die nicht in § 708 ZPO genannt wurden. Bei diesen Urteilen kann der Gläubiger also nur vollstrecken, wenn er zuvor die vom Gericht bestimmte Sicherheit geleistet hat. Dies ist vor der Zwangsvollstreckung jeweils dem zuständigen Vollstreckungsorgan nachzuweisen.

Was aber, wenn der Gläubiger auf die Vollstreckung dringend angewiesen ist, gleichzeitig aber nicht in der Lage ist, die Sicherheit zu leisten?

Dann gibt § 710 die Möglichkeit einen Antrag zu stellen auf eine Ausnahme von der Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung. Hiernach ist das Urteil auf Antrag des Gläubigers  ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar zu erklären, wenn der Gläubiger die Sicherheit nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten leisten kann  und wenn die Aussetzung der Vollstreckung dem Gläubiger einen schwer zu ersetzenden oder schwer abzusehenden Nachteil bringen würde oder aus einem sonstigen Grund für den Gläubiger unbillig wäre, insbesondere weil er die Leistung für den Lebensunterhalt oder seine Erwerbstätigkeit dringend benötigt

Was ist, wenn für den Schuldner die Vollstreckung zu nicht zu ersetzenden Nachteilen führt?

Hier kann der Schuldner einen Schutzantrag gemäß § 712 ZPO stellen. § 712 ZPO gibt dem Schuldner eine erweiterte Abwendungsbefugnis. Während die Abwendungsbefugnis des § 710 ZPO nur erfolgreich greift, wenn nicht zuvor der Gläubiger Sicherheit leistet, kann in den Fällen, in denen die Vollstreckung für den Schuldner eine nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde, das Gericht auf Antrag des Schuldners anordnen, dass die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung ohne Rücksicht auf eine Sicherheitsleistung des Gläubigers abgewendet werden kann. Ist der Schuldner in diesen Fällen zur Erbringung der Sicherheit nicht in der Lage, ist das Urteil nicht für vorläufig vollstreckbar zu erklären, oder die Vollstrckung ist auf bestimmte, in § 720a ZPO bezeichnete Maßnahmen zu beschränken. Bei einem vorläufig ohne Sicherheitsleitung vollstreckbaren Urteil kann das Gericht anordnen, dass die Vollstreckung nur gegen Sicherheit erfolgen darf.

Wichtig ist, dass die Anträge auf Ausnahme von der Sicherheitsleistung sowie der Schutzantrag des Schuldners bereits im laufenden Verfahren gestellt werden müssen. Das bedeutet, sie müssen in der Instanz bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung gestellt werden. Nach dem Urteil ist es für diese Anträge zu spät. Sie sollten also immer bereits in der Klageschrift bzw. in der Erwiderung des Beklagten hierauf bereits gestellt werden.

Haben Sie Fragen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit? Kontaktieren Sie mich gerne.



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