Wegzugsbesteuerung: Folgeentscheidung des BFH nach dem EuGH-Urteil Wächtler (Teil 1)

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In der Folge einer Entscheidung des EuGH (Urteil vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17) hat nun der Bundesfinanzhof (Urteil vom 06. September 2023, I R 35/20) in dem vom Verfasser seit über 10 Jahren geführten Verfahren entschieden, dass die Wegzugsbesteuerung (§ 6 AStG) bei einem Wegzug in die Schweiz dauerhaft und zinslos zu stunden ist, wobei die Stundung allenfalls von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden kann. Das Urteil ist zur bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung der Wegzugsbesteuerung (im Folgenden «a.F.») ergangen, dürfte aber auch auf die Neuregelung Auswirkungen haben, welche für Wegzüge ab 2022 gilt. 

Historie der Wegzugsbesteuerung

Erste Fassung des AStG

Im Jahr 1968 zog der Unternehmer Helmut Horten von Deutschland in die Schweiz. Von dort aus verkaufte er seine gesamten Firmenanteile an einer Kaufhauskette. Der Gewinn war steuerfrei, da die Schweiz Gewinne aus privaten Veräußerungsgewinnen von Kapitalgesellschaftsanteilen nicht besteuert. Daraufhin hat die Bundesrepublik Deutschland das Gesetz über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen (Außensteuergesetz, AStG, auch bekannt als «Lex Horten») eingeführt, welches am 13. September 1972 in Kraft getreten ist. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 AStG a.F. wurde bei natürlichen Personen, die insgesamt mindestens zehn Jahre in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig waren und die in den vorangegangenen fünf Jahren eine mittelbare oder unmittelbare Beteiligung an einer deutschen Kapitalgesellschaft in Höhe von mindestens einem Prozent gehalten haben, bei Aufgabe ihres Wohnsitzes in Deutschland der nicht realisierte Wertzuwachs aus der Beteiligung der deutschen Einkommensteuer unterworfen. Der fiktive Veräußerungsgewinn wird der Einkommensteuer unterworfen (§ 17 EStG). Für die Besteuerung werden 60% des gemeinen Werts der Anteile (§ 11 BewG) als Bemessungsgrundlage herangezogen (Teileinkünfteverfahren, § 3 Nr. 40 EStG).

Änderungen durch das SEStEG

Nachdem der EuGH im Jahr 2004 entschieden hatte, dass die ähnlich ausgestaltete französische Wegzugsbesteuerung dem Gebot der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 52 des EG-Vertrages widerspricht, wenn die Verlagerung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat der EU erfolgt (EuGH, Urteil vom 11. März 2004, Hughes de Lasteyrie du Saillant, C-9/02), forderte die EU-Kommission auch Deutschland förmlich auf, seine Rechtsvorschriften über die Wegzugsbesteuerung aufzuheben (EU-Kommission, Pressemitteilung vom 19.04.2004,1 P/04/493). Deutschland hat in der Folge mit dem SEStEG zwar eine Änderung, teilweise aber noch eine Verschärfung eingeführt (Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften vom 7. Dezember 2006). Damit wurden nicht mehr nur Beteiligungen an inländischen, sondern auch an ausländischen Gesellschaften erfasst, die nach dem Typenvergleich einer deutschen Kapitalgesellschaft entsprechen. Neben dieser Verschärfung wurde durch das SEStEG in § 6 Abs. 5 AStG a.F. auch eine Regelung eingeführt, in Folge derer die nach § 6 Absatz 1 AStG a.F. geschuldete Steuer zinslos und ohne Sicherheitsleistung zu stunden ist, sofern der Steuerpflichtige Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines Vertragsstaat des EWR-Abkommens ist und er nach der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht in einem dieser Staaten (Zuzugsstaat) einer der deutschen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht vergleichbaren Steuerpflicht unterliegt. Weitere Voraussetzung war, dass die Amtshilfe und die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung der geschuldeten Steuer zwischen der Bundesrepublik Deutschland und diesem Staat gewährleistet ist. Die Schweiz wurde in dieser Stundungsregelung nicht berücksichtigt, obwohl auch mit der Schweiz ein bilaterales Abkommen bestand, das sogenannte Freizügigkeitsabkommen (Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, FZA, ABl. L 114 vom 30.4.2002).

Eine weitere Stundungsmöglichkeit, die auch für Wegzüge in Drittstaaten galt, war beschränkt auf Härtefälle und sah eine Aufteilung in maximal fünf verzinsliche Jahresraten gegen Sicherheitsleistung vor (§ 6 Absatz 4 Satz 1 AStG a.F.).

Neuregelung seit dem 01. Januar 2022

In der Folge einer Entscheidung des EuGH (Urteil vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, hierzu ausführlich unten Ziffer 4.2), welches in der sofortigen Erhebung der Wegzugsbesteuerung einen Verstoß gegen das Freizügigkeitsabkommen in Bezug zur Schweiz feststellte, reagierte zunächst das BMF mit einer Anweisung, wonach abweichend von § 6 Absatz 4 Satz 1 AStG a.F. eine Stundung auf Antrag des Steuerpflichtigen in fünf gleichen Jahresraten vorzunehmen ist, die nach § 234 AO zu verzinsen sind, ohne dass es auf eine erhebliche Härte bei alsbaldiger Einziehung ankommt, allerdings nur gegen Sicherheitsleistung, wenn der Steueranspruch, z.B. mangels Beitreibungshilfe, gefährdet erscheine (BMF vom 13. November 2019 - IV B 5 - S 1325/18/10001 :001). Allerdings sah sich der Gesetzgeber statt der Übernahme dieser Regelung des BMF veranlasst, § 6 AStG komplett neu zu gestalten.

Neue Stundungsregelung

Die seit dem 01 Januar 2022 geltende Neuregelung des § 6 AStG sieht nunmehr gar keine Differenzierung mehr zwischen Wegzügen in EU-/EWR und Drittstaaten vor. Insbesondere wurde die dauerhafte zinslose Stundung bis zur Anteilsveräußerung gestrichen (§ 6 Abs. 5 AStG a.F.) und durch die Möglichkeit ersetzt, eine Zahlung der Steuer in sieben Jahresraten zu beantragen (§ 6 Abs. 4 AStG n.F.). Diese Regelung stellt also in Bezug auf Wegzüge in EU-/EWR-Fälle eine erhebliche Verschlechterung dar, jedoch in Bezug auf Wegzüge in Drittstaaten eine Erleichterung.

Nachträgliche Wertverluste

In der Altfassung war vorgesehen, dass nachträgliche Wertminderungen die Wegzugsbesteuerung reduzieren können, sofern der Zuzugsstaat diese bei der Einkommensbesteuerung nicht berücksichtigt (§ 6 Abs. 6 AStG a.F., vgl. zum Erfordernis der fehlenden Berücksichtigung im Zuzugsstaat auch BFH vom 26. Juli 2023, I R 39/20). In der Neuregelung ist diese Möglichkeit ersatzlos gestrichen, so dass keine Korrekturmöglichkeit mehr vorgesehen ist, wenn sich der Wert der Anteile nach dem Wegzug verringert. Dies kann dazu führen, dass Steuern auf fiktive Veräußerungsgewinne zu zahlen sind, die durch den Steuerpflichtigen effektiv nie realisiert werden können.

Der EuGH hat in einem Urteil im Jahr 2006 festgestellt, dass ein Steuerpflichtiger, der aus den Niederlanden wegzieht, gegenüber einer Person, die ihren Wohnsitz in den Niederlanden beibehält, benachteiligt wird (EuGH-Urteil vom 7. September 2006, «N», C-470/04). Wie der EuGH festhielt, wurde eine Person allein wegen des Wegzugs mit dem Einkommen steuerpflichtig, das noch nicht realisiert war und über das er nicht verfügte, wohingegen, wenn er in den Niederlanden wohnen geblieben wäre, der Wertzuwachs nur besteuert worden wäre, wenn und soweit er tatsächlich realisiert worden wäre. Diese unterschiedliche Behandlung sei geeignet, den Betroffenen vom Wegzug aus den Niederlanden abzuhalten. Zudem wurden nach der Verlegung des Wohnsitzes eintretende Wertminderungen zu dem maßgeblichen Wegzugszeitpunkt nicht steuermindernd berücksichtigt. Somit hätte die Steuer auf den nicht realisierten Wertzuwachs, die zum Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung festgesetzt, gestundet und bei einer späteren Veräußerung der Beteiligung fällig geworden wäre, die Steuer übersteigen können, die der Steuerpflichtige hätte entrichten müssen, wenn die Veräußerung zu demselben Zeitpunkt stattgefunden hätte, ohne dass der Steuerpflichtige aus den Niederlanden weggezogen wäre. Die Einkommensteuer wäre dort auf der Grundlage des bei der Veräußerung tatsächlich realisierten Wertzuwachses berechnet worden, der niedriger oder gar inexistent hätte sein können.

Indem die Neufassung des § 6 AStG keine nachträgliche Minderung vorsieht, wenn ein tatsächlicher Veräußerungsgewinn niedriger ausfällt und dadurch die beim Wegzug festgesetzte Steuer diejenige Steuer übersteigt, die der Steuerpflichtige hätte entrichten müssen, wenn die Veräußerung zu demselben Zeitpunkt stattgefunden hätte, ohne dass der Steuerpflichtige aus Deutschland weggezogen wäre, sollten die Argumente aus der Rechtssache «N» auch gegen das Fehlen der Berücksichtigung nachträglicher Verluste vorgebracht werden können, zumindest bei einem Wegzug in einen EU-/EWR-Staat oder in die Schweiz.

Voraussetzung der unbeschränkten Steuerpflicht

Eine weitere Änderung betrifft die nötige Dauer der unbeschränkten Steuerpflicht vor dem Wegzug. Nach der Altregelung war es ausreichend, dass der Steuerpflichtige insgesamt mindestens 10 Jahre in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war (§ 6 Abs. 1 S. 1 AStG a.F.). Dies kann demnach in einem Zeitraum liegen, in dem der Steuerpflichtige die Kapitalgesellschaftsanteile überhaupt noch nicht innehatte. Es reichte aus, wenn eine Person irgendwann in ihrer Kindheit in Deutschland 10 Jahre gewohnt hatte. Nach der Neuregelung gilt die Wegzugsbesteuerung für natürliche Personen, die innerhalb der letzten zwölf Jahre vor dem Auslösen der Wegzugsbesteuerung insgesamt mindestens sieben Jahre unbeschränkt steuerpflichtig gewesen sind (§ 6 Abs. 2 AStG n.F.). Je nach Sachverhalt der betreffenden Personen, kann dies also eine Verschärfung, oder eine Erleichterung im Vergleich zur Altfassung darstellen.

Vorübergehender Wegzug

Geändert wurde zudem die Regelung über die vorübergehende Abwesenheit (zum Erfordernis einer Rückkehrabsicht vgl. BFH, Urteil vom 21. Dezember 2022, I R 55/19, BStBl II 2023, 898). Wird der Steuerpflichtige innerhalb von sieben Jahren seit Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht wieder unbeschränkt steuerpflichtig, entfällt der Steueranspruch unter im Gesetz genauer definierten Voraussetzungen, insbesondere dürfen die Anteile zwischenzeitlich nicht veräußert worden sein (§ 6 Abs. 3 AStG n.F.). Die Frist von sieben Jahren kann auf Antrag des Steuerpflichtigen insgesamt um höchstens fünf Jahre verlängert werden, wenn die Absicht zur Rückkehr unverändert fortbesteht.

Weitere Auslösungstatbestände

Die Wegzugsbesteuerung kann neben der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht (Wegzug) auch durch andere Tatbestände ausgelöst werden. Zum einen ist zu nennen die unentgeltliche Übertragung auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 AStG n.F.), zum anderen der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile.

In der Altfassung war noch als Tatbestand zur Auslösung der Wegzugsbesteuerung geregelt, die Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts oder die Erfüllung eines anderen ähnlichen Merkmals in einem ausländischen Staat, wenn der Steuerpflichtige auf Grund dessen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung als in diesem Staat ansässig anzusehen ist (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 AStG a.F.). Aufgrund einiger Sonderregelungen im DBA Deutschland-Schweiz (siehe hierzu unten Ziffer 2) konnte es zu Fällen kommen, in denen die Wegzugsbesteuerung durch eine Verlagerung der Ansässigkeit in die Schweiz ausgelöst wurde, obwohl das Besteuerungsrecht Deutschlands für Veräußerungsgewinne bezüglich der Kapitalgesellschaftsanteile weiterhin in Deutschland verblieben ist. Im Anwendungserlass zum AStG a.F. war das noch ausdrücklich vorgesehen (BMF vom 14. Mai 2004, Grundsätze zur Anwendung des Außensteuergesetzes Ziffer 6.3, Nr. 2). Wenn die Person dann zu einem späteren Zeitpunkt ihren deutschen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland dann endgültig aufgab, wurde die Wegzugsbesteuerung erneut ausgelöst (§ 6 Abs. 1 S. 1 AStG a.F.).

Bezüglich der Neuregelung, die statt der Ansässigkeitsverlagerung das Erfordernis «Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile» vorsieht, erläutert der aktuelle Anwendungserlass (BMF, Schreiben vom 22. Dezember 2023, RN 89): «Ein Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts liegt vor, wenn die natürliche Person für Abkommenszwecke im anderen Vertragsstaat ansässig ist und das DBA für den Fall einer künftigen Veräußerung der Anteile dem ausländischen Staat aufgrund einer mit Artikel 13 Absatz 5 OECD-MA 2017 vergleichbaren Regelung das ausschließliche Besteuerungsrecht zuweist.» Durch die Formulierung, dass dem Zuzugsstaat das ausschließliche Besteuerungsrecht zugewiesen sein muss, lässt sich argumentieren, dass – sofern das Besteuerungsrecht Deutschlands aufgrund der Sonderregelungen im DBA Deutschland-Schweiz bestehen bleibt – die bloße Ansässigkeitsverlagerung die Wegzugsbesteuerung nicht auszulösen vermag. Hierfür spricht auch die Verwendung des Wortes «und», welches für eine kumulative Voraussetzung spricht. Eindeutig ist diese Formulierung im Anwendungserlass allerdings nicht, da die Fallgruppe der Sonderregelungen nicht erwähnt ist, sondern lediglich auf Art. 13 des Abkommens verwiesen wird. Es wird sich daher die Einholung einer verbindlichen Auskunft empfehlen (§ 89 Abs. 2 AO).

Wertermittlung

Für die Wertermittlung kann grundsätzlich das vereinfachte Ertragswertverfahren angewendet werden, wonach der zukünftig nachhaltig zu erzielende Jahresertrag mit einem Kapitalisierungsfaktor multipliziert wird (§§ 11, 199 ff BewG, insbesondere § 203 BewG: Faktor 13,75). Allerdings wird oftmals auf einen abweichenden Wert nach einem Gutachten nach Ertragswertverfahren (z.B. IDW S1) abgestellt, da das vereinfachte Ertragswertverfahren oft zu überhöhten Werten führen würde. Diesbezüglich ergibt sich durch die Neuregelung keine Änderung.

Sonderregelungen im DBA Deutschland-Schweiz

Verschiedene Sonderregelungen im DBA Deutschland-Schweiz können dazu führen, dass die Wegzugsbesteuerung eingreift, obwohl Deutschland noch ein Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne behält.

Nachgelagertes Besteuerungsrecht bei wesentlichen Kapitalgesellschaftsanteilen

Nach Art. 13 Abs. 5 des OECD-Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (OECD-MA) sind Veräußerungsgewinne von im Privatvermögen gehaltenen Kapitalgesellschaftsanteilen grundsätzlich im Ansässigkeitsstaat zu besteuern. Ausnahmen sind für die Fälle vorgesehen, in denen der Wert zu mehr als 50% auf unbeweglichem Vermögen beruht, das in dem anderen Vertragsstaat liegt. Zudem gilt eine Ausnahme, wenn die Anteile Betriebsvermögen einer Betriebstätte darstellen, welches ein Unternehmen im anderen Vertragsstaat hat. Grundsätzlich aber hat nur der Ansässigkeitsstaat das Besteuerungsrecht für Gewinne aus der Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen Kapitalgesellschaftsanteilen. Für ein «normales» DBA, welches dem OECD-Standard entspricht, ist die Regelung der Wegzugsbesteuerung also verständlich, da mit dem Wegzug regelmäßig das Besteuerungsrecht des Wegzugsstaats für Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalgesellschaften enden würde.

Nach Art. 13 Abs. 4 des DBA Deutschland-Schweiz hingegen behält bei einer Ansässigkeitsverlagerung einer natürlichen Person der frühere Ansässigkeitsstaat noch für fünf Jahre das Besteuerungsrecht. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Person eine wesentliche Beteiligung hält, welche definiert ist als «mehr als ein Viertel». Weitere Voraussetzung ist, dass die Person für den Veräußerungsgewinn im Ansässigkeitsstaat keiner Besteuerung unterliegt. Dies ist bei der Schweiz aktuell der Fall, da die Schweiz keine Steuer auf Veräußerungsgewinne erhebt, die aus Kapitalgesellschaften stammen, welche eine natürliche Person im Privatvermögen hält. Die Ausnahmeregelung in Art. 13 Abs. 4 DBA Deutschland-Schweiz ist also speziell für solche Konstellationen entwickelt, in denen eine natürliche Person von Deutschland in die Schweiz zieht und dort ihre Kapitalgesellschaftsanteile veräußert.

Aufgrund dieser Sonderregelung im DBA Deutschland-Schweiz kann es demnach zu der Situation kommen, dass das Besteuerungsrecht Deutschlands während dieser Fünfjahresfrist bestehen bleibt, jedoch die Wegzugsbesteuerung trotzdem ausgelöst wird. In solchen Fällen erscheint die von der Rechtsprechung des EuGH entwickelte Rechtfertigungsmöglichkeit einer Wegzugsbesteuerung durch der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Vertragsparteien zweifelhaft (vgl. EuGH, Urteil vom 17. März 2022, AllianzGI-Fonds AEVN, C‑545/19, Rn. 82).

Wartefrist für wegziehende Personen

Die Bundesrepublik Deutschland hat zudem noch weitere Sonderregelungen im DBA Deutschland-Schweiz vorgesehen, die ihr ein Besteuerungsrecht zuweisen, welche im OECD-MA nicht vorgesehen sind. Nach Art. 4 Abs. 4 DBA Deutschland-Schweiz kann Deutschland bei einer natürlichen Person, die nicht die schweizerische Staatsangehörigkeit besitzt, während des Wegzugsjahrs und weiteren fünf Jahren die aus Deutschland stammenden Einkünfte besteuern, auch wenn die anderen Abkommensartikel diese Einkünfte eigentlich der Schweiz zuweisen und eine Freistellung in Deutschland vorsehen würden. Voraussetzung hierfür ist, dass die Person in Deutschland insgesamt mindestens fünf Jahre unbeschränkt steuerpflichtig war. Eine Ausnahme ist vorgesehen, wenn die Person in der Schweiz ansässig geworden ist, um hier eine echte unselbständige Arbeit auszuüben. Das schweizerische Besteuerungsrecht bleibt hierdurch unberührt.

Die Ausnahmeregelung in Art. 4 Abs. 4 DBA Deutschland-Schweiz ist demnach ebenfalls speziell für Konstellationen entwickelt, in denen eine natürliche Person von Deutschland in die Schweiz zieht. Auch nach dieser Vorschrift können Gewinne aus der Veräußerung von deutschen Kapitalgesellschaftsanteilen noch weiter in Deutschland besteuert werden, auch wenn die Regelung in Art. 13 DBA Deutschland-Schweiz das Besteuerungsrecht ausschließen würde, wenn eine Beteiligung am Stammkapital zwischen 1 – 25% vorliegt. Deutschland geht mit der Ausnahmeregelung für Arbeitnehmer davon aus, dass in solchen Fällen das Motiv der Steuervermeidung nicht im Vordergrund steht. Ausreichend soll dafür auch sein, wenn das Motiv der Arbeitsausübung in der Schweiz nicht das Hauptmotiv für den Umzug war, wenn nur die Absicht hinzukommt, dort einer unselbständigen Arbeit nachzugehen. Es ist auch nicht erforderlich, dass die beabsichtigte Arbeitsaufnahme schon konkrete Formen angenommen hat. Insbesondere müssen weder der Arbeitgeber noch der Arbeitsplatz noch die Art der auszuübenden Tätigkeit beim Zuzug in die Schweiz feststehen. Schließlich genügt es, wenn beim Zuzug in die Schweiz die Absicht der Arbeitsaufnahme vorhanden gewesen ist, selbst wenn diese Absicht dann später endgültig und auf Dauer aufgegeben wird (BFH, Urteil vom 2. September 2009, I R 111/08, BStBl II 2010, 387). Im Übrigen schadet auch nicht, wenn der Umzug in die Schweiz erst mehrere Jahre nach Aufnahme der dortigen Arbeitstätigkeit erfolgt ist (BFH, Urteil vom 19. Oktober 2010, I R 109/09, BStBl II 2011, 443). Bei dieser Regelung dürfte wiederum die Rechtfertigungsmöglichkeit einer Wegzugsbesteuerung durch der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Vertragsparteien zweifelhaft sein.

Überdachende Besteuerung bei ständiger Wohnstätte

Schließlich hat sich Deutschland – entgegen dem OECD-MA – zeitlich unbefristet ein Besteuerungsrecht für den Fall vorbehalten, dass der Steuerpflichtige zwar in der Schweiz ansässig ist (also in der Regel dort seinem Lebensmittelpunkt hat), aber noch eine ständige Wohnstätte in Deutschland hat (Art. 4 Abs. 3 S. 1 DBA Deutschland-Schweiz). Bei dem im Abkommen nicht definierten Begriff der «ständigen Wohnstätte» handelt es sich um einen Wohnsitz, der in das übliche Leben des Steuerpflichtigen eingebunden ist und nicht nur an wenigen Tagen im Jahr genutzt wird. Auf eine Mindestzahl an Tagen will sich die Rechtsprechung hierfür allerdings nicht festlegen lassen (BFH, Urteil vom 05. Juni 2007, I R 22/06, BStBl II 2007, 812).

Demnach kann in solchen Konstellationen Deutschland weiterhin eine Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften vornehmen. Nach § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AStG a.F. und dem hierzu ergangenen Anwendungserlass wollte Deutschland dennoch die Wegzugsbesteuerung anwenden, da nach dem Gesetzeswortlaut allein die Verlagerung der Ansässigkeit in einen Staat, mit dem Deutschland ein Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen hat, zu einer Verwirklichung des Tatbestands der Wegzugsbesteuerung führte. Nach der Neuregelung dürfte dies nicht mehr möglich sein (vgl. oben Ziffer 1.3.5).

Amtshilfe, große Auskunftsklausel

Im Jahr 2009 hat die Schweiz ihre Amtshilfepolitik dem weltweiten Trend zur Transparenz angepasst und beschlossen, den OECD-Standard in ihre DBA zu übernehmen. Der OECD-Standard beinhaltet, dass Amtshilfe generell auch für die Durchsetzung des internen Rechts geleistet werden soll und zwar unter Durchbrechung des Amtsgeheimnisses. Die Schweiz hat mit Art. 27 des DBA Deutschland-Schweiz auch die im Jahre 2005 neu in das OECD-Musterabkommen aufgenommenen Bestimmungen durch das das Protokoll vom 27. Oktober 2010 zum Abkommen übernommen (große Auskunftsklausel bzw. große Amtshilfe).

Freizügigkeitsabkommen

Niederlassungsfreiheit

Das Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz (FZA) ist Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung (Art. 216, 217 AEUV). Es bindet daher die Mitgliedstaaten. Nach dem Wortlaut des zweiten Satzes der Präambel des Abkommens sind die Vertragsparteien «entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen». Das FZA lehnt sich deutlich an die Bestimmungen des AEUV zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, zur Niederlassungsfreiheit, zur Dienstleistungsfreiheit und an das allgemeine Freizügigkeitsrecht sowie an das freizügigkeitsspezifische Sekundärrecht der EU an. Der persönliche Anwendungsbereich des FZA umfasst die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und der Schweiz, der räumliche erstreckt sich auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der Schweiz (Art. 1 FZA). Das Ziel des Abkommens besteht insbesondere darin, zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU und der Schweiz die Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien und die Einräumung der gleichen Lebens‑, Beschäftigungs‑ und Arbeitsbedingungen wie für Inländer zu gewährleisten (Art. 1 Buchst. a und d FZA). Zur Erreichung der Ziele des FZA treffen die Vertragsparteien alle erforderlichen Maßnahmen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden (Art. 16 Abs. 1 des FZA). Soweit für die Anwendung des FZA Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, hierfür die einschlägige Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt (Art. 16 Abs. 2 Satz 1 des FZA).

Der Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA ist der 21. Juni 1999. Damit ist die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten auch auf das Verhältnis zur Schweiz übertragbar, welche vor dem Zeitpunkt ergangen ist. Der EuGH hat vor diesem Datum in verschiedenen Urteilen festgestellt, dass eine direkte Besteuerung seitens der Mitgliedstaaten unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts zu erfolgen hat (EuGH-Urteil vom 14. Februar 1995, Schumacker, C-279/93). Die Niederlassungsfreiheit natürlicher Personen wird durch das FZA in vergleichbarer Weise geschützt, wie es beim AEUV der Fall ist. Das gilt auch und insbesondere in Bezug auf steuerliche Maßnahmen der Vertragsstaaten. Dies ergibt sich zum einen aus der Zielsetzung des Abkommens, zum anderen auch aus dem Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH, welche bereits vor Unterzeichnung des FZA die wesentlichen Grundsätze festgestellt hatte.

Der EuGH hat zudem festgestellt, dass das Abkommen nicht lediglich im Fall der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, also dann anwendbar sei, wenn die Staatsangehörigen einer Vertragspartei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei gegenüber Inländern ungleich behandelt würden (EuGH, Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein, C-425/11). Es ist nämlich möglich, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei unter bestimmten Umständen und nach Maßgabe der anwendbaren Bestimmungen aus dem Abkommen abgeleitete Rechte auch gegenüber ihrem eigenen Land geltend machen können (EuGH, Urteil vom 15. Dezember 2011, Bergström, C‑257/10).


Fortsetzung siehe Teil 2.

Der ganze Artikel ist erschienen im steueranwaltsmagazin 2024, 71-78


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