Kinder im Straßenverkehr
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Wenn die Blechlawine über die Straßen rollt, fällt es sogar Erwachsenen schwer, die Verkehrssituation immer richtig einzuschätzen. Das gilt erst recht für Kinder, die Geschwindigkeiten und Abstände nur bedingt beurteilen können. Hinzu kommt, dass kleine Kinder oft intuitiv, spontan und unüberlegt handeln. Das hat Folgen: Immer wieder sind Kinder in Autounfälle verwickelt. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber die Haftung für Kinder im Straßenverkehr ausgeschlossen bzw. begrenzt. Die Redaktion von anwalt.de stellt einige Gerichtsentscheidungen vor, aus denen die Haftungsgrenzen von Kindern im Straßenverkehr deutlich werden.
[image]Überblick zu den Haftungsregeln
Die Haftung von Kindern findet sich in § 828 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): Gemäß Absatz 1 haften Kinder bis zum Alter von 7 Jahren grundsätzlich nicht. Bei Kindern vom 7. bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres sieht Absatz 2 speziell im Straßenverkehr eine Begrenzung auf Vorsatz vor. Und schließlich bestimmt Absatz 3, dass Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres für einen Schaden nicht haftbar gemacht werden können, wenn sie nicht die erforderliche Einsicht dafür haben, ihre Verantwortlichkeit zu erkennen.
Von der Haftung des Kindes ist die der Eltern zu unterscheiden: Verursacht ihr Kind einen Verkehrsunfall, können sie gemäß § 832 BGB nur zum Schadensersatz herangezogen werden, wenn sie ihre Aufsichtspflicht verletzt haben. Diese Vorschrift begründet nicht nur eine Haftung der Eltern, sondern aller Personen, denen die Aufsicht übertragen wurde, also beispielsweise auch der Großeltern, Babysitter oder anderer Aufsichtspersonen.
Bei Verkehrsunfällen mit Kindern geht das Gesetz davon aus, dass der Halter des Fahrzeuges grundsätzlich aufgrund der Betriebsgefahr gemäß § 7 Straßenverkehrsgesetz (StVG) haftet. Er kann seine Haftung nur widerlegen, wenn er nachweist, dass der Unfall auf höherer Gewalt beruht. In der Praxis ist dieser Nachweis jedoch meist nur schwer zu führen.
Die verschiedenen Komponenten der Haftung von Kindern, deren Eltern und von Fahrzeughaltern sind in der Praxis stark vom Einzelfall abhängig. Es existiert eine Vielzahl von Gerichtsentscheidungen, die zwar meist keine generelle Aussage treffen. Allerdings können sie durchaus veranschaulichen, worauf es im Streitfall ankommt und welches Verhalten der Gesetzgeber Kindern, deren Eltern und auch Autofahrern im Straßenverkehr abverlangt.
Haftung von Kindern
Bis zum Alter von 7 Jahren haften Kinder grundsätzlich nicht für Schäden, die sie einem Dritten zufügen (§ 828 Absatz 1 BGB). Der Haftungsausschluss gilt nicht nur im Straßenverkehr, sondern ebenfalls in allen anderen Bereichen, wenn Kleinkinder einem Dritten einen Schaden zufügen. Um der kindlichen Entwicklung besonders Rechnung zu tragen, sieht § 828 Absatz 2 BGB darüber hinaus für 7- bis 10-Jährige eine Begrenzung der Haftung speziell im Straßenverkehr vor. Wenn sie einen Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienen- oder Schwebebahn verursachen, haften sie nur für vorsätzliches Handeln. Diese Haftungsprivilegierung ist also auf Situationen mit oben genannten Fahrzeugen beschränkt und gilt nicht bei Unfällen beispielsweise mit Radfahrern oder Fußgängern. Dann kommt eine Haftung des Kindes nach den allgemeinen Regeln in Betracht, insbesondere gemäß § 828 Absatz 3 BGB, der für Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gilt. Hier ist eine Haftung ausgeschlossen, wenn das Kind nicht über die erforderliche Einsichtsfähigkeit in seine Verantwortlichkeit verfügt.
Der Unterschied zwischen beiden Fallvarianten zeigt sich in der Praxis. Verursacht ein Kind von 7 bis 10 Jahren einen Verkehrsunfall, reicht es im Streitfall aus, wenn das Alter nachgewiesen wird. Allerdings kommt es auch in diesen Fällen wieder auf den Ablauf des Geschehens an. Denn da die Haftungsregel zugunsten der Kinder in diesem Alter weitreichende Folgen für den Geschädigten hat, wenden die Gerichte § 828 Absatz 2 meist strikt nur auf die im Gesetz verankerten Fälle an. Das gilt insbesondere in Hinblick auf die dort aufgeführten Fahrzeuge und auch auf die typische Gefahrensituation im Straßenverkehr.
Vorsätzliches Handeln
Kinder im Alter von 7 bis 10 Jahren können trotz § 828 Absatz 2 BGB haften, wenn sie vorsätzlich gehandelt haben. Werfen sie also beispielsweise Steine von einer Autobahnbrücke und verursachen einen Unfall, so müssen sie im vollen Umfang für den Schaden einstehen. Allerdings wird auch bei der Frage nach einem möglicherweise vorsätzlichen Handeln des Kindes von den Gerichten die Reife und Entwicklung des Kindes berücksichtigt.
Das zeigt eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln in einem Prozesskostenhilfeverfahren, das sich auf einen Verkehrsunfall eines 9-Jährigen bezog, der mit einem Fahrrad ohne Bremsen auf der Straße unterwegs war und ein Auto anfuhr. Die Richter bewerteten das Fahren ohne Bremsvorrichtung nicht als Vorsatz, sondern als typischen Leichtsinn eines Kindes in diesem Alter. Damit konnte der Junge gemäß § 828 Absatz 2 BGB nicht zur Haftung herangezogen werden (Beschluss v. 02.04.2007, Az.: 24 W 13/07).
Gefahrensituation im Straßenverkehr
Die Gerichte wenden § 828 Absatz 2 BGB meistens nur bei Unfällen an, die sich im motorisierten Straßenverkehr ereignen. Der Haftungsausschluss greift nur bei Unfällen, die in Zusammenhang mit typischen Verkehrssituationen stehen, die Kinder überfordern können oder in denen sie nicht angemessen und unüberlegt reagieren. Ob § 828 Absatz 2 BGB greift, hängt also davon ab, wo und wie sich der Unfall ereignet hat. Hierzu existieren viele Einzelfallentscheidungen, die sich auf die spezielle Gefahrensituation im motorisierten Straßenverkehr beziehen.
Unproblematisch sind Fälle, die sich im fließenden Verkehr ereignen. Ist ein Fahrzeug in Bewegung, kann von einer kindlichen Überforderung ausgegangen werden. Der Bundesgerichtshof hat etwa die Haftung eines 8-jährigen Jungen verneint, der auf dem Bürgersteig sein Fahrrad auf die Straße rollen ließ und ein vorbeifahrendes Auto beschädigte (Urteil v. 16.10.2007, Az.: VI ZR 42/07). Doch wie verhält es sich bei Unfällen, die sich im ruhenden Verkehr ereignen? Hält das Fahrzeug verkehrsbedingt, zum Beispiel weil es auf Sichtlinie einer Straßenmündung anhält, und fährt ein 8-Jähriger auf das Fahrzeug auf, muss er für den Schaden nicht haften, weil eine typische Fallkonstellation im motorisierten Straßenverkehr vorliegt (Urteil v. 17.04.2007, Az.: VI ZR 109/06). Umgekehrt hat der Bundesgerichtshof einen 9-Jährigen zum Schadensersatz verurteilt, der mit seinem Kickboard ein ordnungsgemäß abgestelltes Fahrzeug beschädigt hatte. Mit seinen Freunden machte der Bub auf der Straße ein Wettrennen. Als er stürzte, stieß sein Kickboard gegen ein am rechten Straßenrand geparktes Auto. Er musste für den entstandenen Sachschaden haften (Urteil v. 30.11.2004, Az.: VI ZR 335/03).
Typische Überforderungssituation
Allerdings reicht dem Bundesgerichtshof die Differenzierung zwischen ruhendem und fließendem Verkehr allein nicht aus. Nach Ansicht des VI. Zivilsenats ist für eine Haftungsfreistellung entscheidend, ob sich das Geschehen als eine typische Konstellation herausstellt, in der typischerweise wegen der Komplexität und wegen des unübersichtlichen Ablaufs von einer Überforderung des Kindes ausgegangen werden kann. Hat sich der Unfall in einer typischen Überforderungssituation ereignet, ist das Kind von der Haftung gemäß § 828 Absatz 2 BGB freigestellt.
Es kommt also nicht in erster Linie darauf an, ob sich der Unfall im ruhenden oder fließenden Verkehr ereignet hat, sondern ob eine typische Überforderungssituation des Kindes im Straßenverkehr gegeben ist. Liegt diese vor, greift die Haftungsfreistellung zugunsten des Kindes. Ist das nicht der Fall, muss das Kind gegebenenfalls nach den allgemeinen Grundsätzen für Schäden haften. Mit Urteil v. 11.03.2008 (Az.: VI ZR 75/07) hat der Bundesgerichtshof die Haftung eines Kindes verneint, das mit seinem Fahrrad ein Fahrzeug beschädigt hatte. Das Auto stand zwar am rechten Fahrbahnrand. Allerdings waren alle Hintertüren geöffnet und mehrere Personen standen an den geöffneten Wagentüren. Diese Situation bewertete der Senat als ein Geschehen, bei dem sich typischerweise die Überforderung von Kindern in der privilegierten Altersgruppe zeigt.
Einzelfall entscheidend
Laut Bundesgerichtshof kann folglich auch im „ruhenden Verkehr" eine Überforderungssituation für das Kind bestehen. Ausschlaggebend ist, dass es sich um eine Situation handelt, die typischerweise Kinder im entsprechenden Alter überfordert. Ob sich die kindliche Überforderung tatsächlich auf den Unfallhergang ausgewirkt hat, spielt dagegen keine Rolle. Es reicht aus, wenn die Situation ein Kind in diesem Alter normalerweise überfordert. Das zeigt eine weitere Entscheidung des Bundesgerichtshofs in diesem Zusammenhang:
Das Landgericht Bonn hatte die Anwendung des § 828 Absatz 2 BGB zugunsten eines 8-jährigen Kindes abgelehnt, das mit dem Fahrrad auf dem Gehweg unterwegs war und ein dort geparktes Auto beschädigte. Die Karlsruher Richter verneinten die Haftung des Kindes. Weil es vor dem Unfall bereits an mehreren geparkten Autos vorbeigefahren war, ohne die Fahrzeuge zu beschädigen, ging der Bundesgerichtshof davon aus, dass das beschädigte Fahrzeug weiter in den Gehweg hinein geragt haben muss als die anderen Autos. Das kann Kinder in dem Alter überfordern, weil sie Entfernungen und Geschwindigkeiten noch nicht richtig einschätzen können (Urteil v. 30.06.2009, Az.: VI ZR 310/08).
Haftung von Kindern ab 11 Jahren
Mit Erreichen des 11. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres haften Kinder gemäß § 828 Absatz 3 BGB, wenn sie verschuldensfähig sind und die nötige Einsichtsfähigkeit und das nötige Verantwortungsbewusstsein haben. Im Straßenverkehr setzen die Gerichte dann voraus, dass ein Kind mit zunehmendem Alter vernünftig genug ist, um sich gemäß den gängigen Verkehrsregeln zu verhalten. Das zeigt ein Fall, der vor dem Landgericht Hamburg verhandelt wurde:
Eine 11-jährige Schülerin war in Zeitdruck und wollte den Schulbus noch rechtszeitig erreichen. Gegenüber der Bushaltestelle lief sie, ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Straße, wurde von einem vorbeifahrenden Wagen erfasst und schwer verletzt. Die Hamburger Richter wiesen ihr ein Mitverschulden an dem Unfall in Höhe von 70 Prozent zu, der Autofahrer haftete zu 30 Prozent aus Betriebsgefahr. Bei einem Kind von 11 Jahren, das gewohnt ist, mit dem Bus allein zur Schule zu fahren, hatte das Landgericht keinerlei Zweifel, dass es über die für ein Verschulden vorausgesetzte Einsichtsfähigkeit verfügt (Urteil v. 18.12.2009, Az.: 331 O 163/07).
Haftung der Eltern
Verursacht ein Kind einen Schaden, kann der Geschädigte außerdem unter Umständen Ansprüche gegen die Eltern wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht geltend machen. Die Haftung wegen der Verletzung der Aufsichtspflicht bestimmt sich unabhängig von der Haftung des Kindes. Der Umfang der Aufsichtspflicht richtet sich wiederum nach dem Alter des Kindes, seiner Entwicklung (Einsichtsfähigkeit, Vernunft etc.) und dem Unfallhergang. Diesbezüglich müssen sich die Eltern angemessen verhalten und ihrer Aufsichtspflicht ausreichend nachkommen.
Haften sowohl Kind als auch Eltern, kann der Geschädigte Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegenüber beiden geltend machen, sie haften als Gesamtschuldner, § 421 BGB.
Vorsicht ist besser als Haftpflicht
Der Straßenverkehr bringt immer wieder gefährliche Situationen mit sich, die sich für Kinder als verhängnisvoll erweisen können. Deshalb sollten Eltern die Gefahren nicht unterschätzen und sich darüber im Klaren sein, dass Kinder allein aufgrund ihrer Entwicklung nicht immer wie „kleine Erwachsene“ reagieren können. Eine Privathaftpflichtversicherung ist auf alle Fälle zu empfehlen. Bei ihr sind Kinder mitversichert. Auch im Alltag können Eltern vorbeugen. Um eine Überforderung zu vermeiden, sollten Kinder allmählich mit den wichtigsten Verkehrsregeln vertraut gemacht werden. Gerade auf dem Schulweg ereignen sich häufig Unfälle. Die lassen sich vermeiden, wenn man die Kinder zur Schule begleitet. Sind sie größer und gehen allein zur Schule, sollten Eltern genug Zeit für den Schulweg einplanen. Und falls man einmal spät dran ist, sollte man sein Kind auf keinen Fall unter Zeitdruck setzen. Besser, es kommt zehn Minuten später in den Unterricht als gar nicht, weil es wegen eines Verkehrsunfalls im Krankenhaus landet.
(WEL)
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