Entzug des Sorgerechts bei Verdacht auf Kindesmisshandlung (BVerfG, 1 BvR 1807/20)
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In dieser Entscheidung hat sich das Bundesverfassungsgericht damit auseinandergesetzt, welche Voraussetzungen für den Entzug des Sorgerechts wegen des Verdachts von Misshandlungen vorliegen müssen.
Ausgangssituation
Ein im Sommer 2017 geborenes Kind erlitt im elterlichen Haushalt zwei Mal erhebliche Verletzungen. Bereits im Alter von wenigen Wochen geschah ein Oberschenkelbruch, auch Hämatome („blaue Flecken“) wurden festgestellt. Als das Kind drei Monate alt war, kam es zu Verletzungen, die zu einem sog. „Schütteltrauma“ passten.
Im Mai 2018 entzog das Familiengericht den Eltern auf Antrag des Jugendamts das Sorgerecht und brachte es in einer Pflegefamilie unter.
Entscheidung des Oberlandesgerichts
Knapp zwei Jahre später bestätigt das Oberlandesgericht diese Entscheidung, nachdem es Gutachten und ärztliche Stellungnahmen eingeholt hatte. Aufgrund der beiden Verletzungen in der Vergangenheit gebe es eine erhöhte Gefahr für das Kind auch in der Zukunft.
- Eine sichere Feststellung der damaligen Geschehnisse sei dabei aber nicht erforderlich. Die Tatsache, dass es durch die Eltern zumindest fahrlässig zu Verletzungen gekommen sei, reiche für eine Prognose aus. Zu Lasten der Eltern spreche auch, dass es unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Schilderungen zum Hergang gebe. Alternative Ursachen, die die Eltern entlasteten, seien nicht ersichtlich oder jedenfalls sehr unwahrscheinlich.
Da sich an den familiären Bedingungen nichts geändert habe, seine weitere Verletzungen zu erwarten. Angesichts der bisherigen Annahmen sei zu befürchten, dass der Vater Gewalt gegen das Kind ausübe und die Mutter dies zumindest nicht verhindere. Auch, dass das Kind mittlerweile zweieinhalb Jahre alt sei, ändere daran nichts.
Verfassungsbeschwerde
Die Eltern legten daraufhin Verfassungsbeschwerde ein und rügten insbesondere eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG.
- Die Feststellungen der Gerichte zu den Ursachen der Verletzungen seien rein spekulativ und stützten sich nur auf Vermutungen der Sachverständigen. Eine bestimmte Verletzungshandlung der Eltern sei nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. In einigen Aspekten wurde die Verfassungsbeschwerde bereits als formal unzulässig angesehen. Von allgemeiner Relevanz sind aber die Ausführungen des BVerfG zum Elternrecht:
- Die Feststellungen zu den wahrscheinlichen Ursachen der Verletzung zeigten keinen verfassungsrechtlich relevanten Fehler. Die Tatsachenfeststellungen müssten nicht mit „unumstößlicher Sicherheit“ erfolgen, es reiche vielmehr, dass „die Gewissheit den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen“. Beruhen die Feststellungen auf einer tragfähigen Grundlage und sind die nachvollziehbar begründet, sind sie einer Nachprüfung durch das BVerfG entzogen. Die eingeholten Gutachten seien eine tragfähige Grundlage.
- Die Prognose, dass weitere Gefährdungen drohten, sei nicht zu beanstanden. Zwei Verletzungen innerhalb von drei Monaten stellten ein schwerwiegendes Erziehungsversagen dar. Dafür sei es nicht notwendig, konkrete Verletzungshandlungen oder Versäumnisse nachzuweisen.
- Angesichts der Schwere der Verletzungen sei es auch nicht notwendig, nähere Prognosen dazu zu treffen, wie wahrscheinlich weitere Verletzungen überhaupt seien.
- Mildere wirksame Mittel als die Fremdunterbringung des Kindes seien nicht ersichtlich. Angesichts der drohenden erheblichen Verletzungen sei die Fremdunterbringung auch verhältnismäßig.
Bedeutung der Entscheidung
Das Bundesverfassungsgericht zeigt hier die Voraussetzungen für den Sorgerechtsentzug bei möglichen Kindesmisshandlungen auf. Das Gericht muss demnach
- den Sachverhalt ermitteln,
- eine Prognose zu weiteren Gefährdungen anstellen und
- die Schwere der Gefahren abwägen.
Diese drei Dinge ergänzen sich dabei gegenseitig. Je schwerer bspw. die Gefahr ist, umso geringer muss die Prognosesicherheit sein. Je größer das Verschulden der Eltern, desto geringere Gefahren sind ausreichend.
Es zeigt sich aber auch eines: Es gibt hier kein „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten). Es muss keine exakte Schuld unumstößlich festgestellt werden, es reicht vielmehr eine erhebliche Wahrscheinlichkeit. Denn es wird ja keine strafrechtliche Sanktion ausgesprochen, sondern es soll eine Gefahr für das Kindeswohl abgewandt werden. Im Rahmen der Gefahrenabwehr braucht es aber keine absolute Sicherheit.
Im vorliegenden Fall war die Entscheidung wohl sehr klar. Es gab einen relativ eindeutigen Sachverhalt, eine recht verlässliche Prognose und eine ganz erhebliche Gefahr für das Kind. Aber auch, wenn eines oder sogar alle dieser drei Kriterien nur in geringere Maße erfüllt gewesen wären, hätte es wohl für einen Sorgerechtsentzug noch gereicht.
Vorbereitung einer Verfassungsbeschwerde gegen Sorgerechtsentzug
Bei ungerechtfertigten Vorwürfen gegen die Eltern ist es darum im Instanzverfahren vor den Familiengerichten notwendig, auf all diesen Ebenen zu argumentieren. Erst dann ist es möglich, gegen eine negative Entscheidung des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts eine erfolgversprechende Verfassungsbeschwerde einzulegen.
Denn das Bundesverfassungsgericht führt keine eigene Beweisaufnahme durch, sondern prüft lediglich, ob das Gericht aufgrund der ihm vorliegenden Tatsachen anders hätte entscheiden müssen. Tatsachenvortrag, Beweise oder Beweisanträge müssen daher so früh wie möglich, spätestens vor dem Oberlandesgericht vorgebracht werden.
Rechtsanwalt Thomas Hummel ist auf Verfassungsrecht spezialisiert und kann auch familienrechtliche Verfassungsbeschwerden für Sie übernehmen. Gerne arbeitet er auch schon mit Ihrem Rechtsanwalt vor den Familiengerichten zusammen, um bereits dort das Fundament für die Verfassungsbeschwerde zu schaffen.
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